Internationaler DrogenhandelWie Kokain aus Belgien Europa überflutet
125 Angeklagte: Ein Megaprozess in Brüssel gewährt tiefe Einblicke in das Drogengeschäft. Ein Bandenchef sagt: «Ich habe gespielt, und ich habe verloren.»
Die belgische Justiz verhandelt ihre spektakulärsten Fälle hinter Mauern und Stacheldraht im ehemaligen Hauptquartier der Nato in Brüssel. Vergangenen September wurden dort die Urteile gegen die islamistischen Terroristen gefällt, die mit ihren Anschlägen in Paris und Brüssel ganz Europa in Atem gehalten hatten.
Nun sitzt dort im grössten Strafprozess der belgischen Geschichte internationales Drogenvolk auf der Anklagebank. Und wieder hat Europa allen Grund, ganz genau hinzusehen. Denn Belgien ist der wichtigste Umschlagplatz für das Kokain, das gerade den Kontinent überflutet.
Von «Megaprozess» ist die Rede, wobei sich «mega» nicht auf die Prominenz der Angeklagten bezieht, sondern auf deren schiere Zahl. Wegen organisierten Drogenhandels angeklagt sind 125 Personen – viele Albaner, aber auch Marokkaner, Russen, Ukrainer, Kolumbianer und Belgier natürlich, darunter ein Frittenproduzent, ein ehemaliger Fussballprofi, ein Anwalt, ein Polizist. Sie alle wollten mitverdienen in diesem Milliardengeschäft.
Und dann knackt die Polizei die Messenger-Dienste
Wollte man den europäischen Drogenhandel in einer Person abbilden, fiele die Wahl auf den Bandenchef Eridan Munoz G. Er ist albanischen Ursprungs, verheiratet mit einer Kolumbianerin, wohnhaft in Brüssel, ein polyglotter Mensch, der sich auf Albanisch, Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Niederländisch verständigen kann, ein glänzender Darsteller seiner selbst.
Er bekenne sich in allen Anklagepunkten für schuldig, sagte er in seinem Eröffnungsstatement zur Vorsitzenden Richterin: «Frau Präsidentin, ich habe gespielt und ich habe verloren.»
Verloren hat er, weil er wie alle anderen Angeklagten zur Kommunikation die Messenger-Dienste EncroChat und Sky ECC nutzte. Drogenkriminelle in aller Welt glaubten, die Polizei werde deren Verschlüsselung niemals knacken. Als europäische Ermittler es dennoch schafften, tat sich ihnen das ganze Spektrum des internationalen Drogenhandels auf.
Es gab im Jahr 2021 massenhaft Beschlagnahmungen und Festnahmen in ganz Europa. Allein in Belgien wurden bislang 1000 Angeklagte verurteilt. Einen grossen Teil der Fälle hat die belgische Justiz nun zusammengelegt, was viele der Verteidiger kritisieren. Der «Megaprozess» sei eine Art Schauprozess.
Tatsächlich wollen die belgischen Behörden mit dem Prozess ein Signal senden: Belgien hat ein Problem, und mit Belgien hat ganz Europa ein Problem. Nicht umsonst hat die belgische Regierung den Kampf gegen das Kokain, das so viel menschliches Leid, Gewalt und Korruption nach Europa bringt, sogar auf die Tagesordnung ihrer EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2024 gesetzt.
2023 wurden mindestens 120 Tonnen Kokain sichergestellt
Antwerpen gilt als wichtigster Drogenumschlagplatz Europas, vor allem für Kokain. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die flämische Stadt hat eine grosse Tradition im Handel mit Südamerika. Der Hafen ist flächenmässig der grösste in Europa und nur schwer zu kontrollieren. Hinzu kommt, dass Zoll und Polizei in Belgien seit jeher unterbesetzt und unterfinanziert sind. Dennoch wurden letztes Jahr in Antwerpen über 120 Tonnen Kokain sichergestellt.
Nach Angaben von Europol gibt es in Südamerika derzeit ein derartiges Überangebot an Kokain, dass die weisse Welle so schnell nicht verebben wird, die gerade über Europa hinweggeht. Ein Indiz für die hohe Verfügbarkeit von Kokain ist ein geringer Preis, und der ist nach Schätzungen der Polizei nirgendwo so niedrig wie in Belgien: rund 50 Euro für das Gramm.
Die wachsende Konkurrenz im Kokaingeschäft führt in Belgien zu immer mehr Gewalt. In Antwerpen werden im Krieg der vorwiegend marokkanischen Clans immer wieder Brandsätze geworfen und Granaten gezündet. In Brüssel hat die Gewalt seit dem vergangenen Jahr eine neue Qualität erreicht.
Zustände, wie man sie in Europa nur aus Marseille kennt
In der Stadt herrschten mittlerweile Zustände, wie man sie in Europa nur aus Marseille kenne, klagen Ermittler. Einen albanischen Auftragskiller zu verpflichten, koste nicht mehr als 5000 Euro. Im September wurde ein Dealer von Rivalen auf offener Strasse mit 17 Schüssen aus einer Kalaschnikow hingerichtet, er war im vergangenen Jahr einer von rund einem Dutzend Toten im Krieg der Clans. Insgesamt zählte man in Brüssel rund 50 Schiessereien im Drogenmilieu.
Der Brüsseler «Megaprozess» bietet nun die Gelegenheit, diesem blutigen Business auf den Grund zu gehen. «Sie können sicher sein, meine Herren, dass Sie das beste Produkt bekommen, das auf dem Markt verfügbar ist. Und wir garantieren, dass die Lieferung am gewünschten Ort ankommt.» So steht es in einer abgefangenen Textnachricht, die von Kolumbien nach Antwerpen geschickt wurde.
Ein eigener Geschäftszweig ist das Herausholen des Stoffes aus den in Antwerpen angekommenen Containern. Manchmal helfen geschmierte Hafenarbeiter oder Zöllner mit, manchmal geht es mit Gewalt.
Labors in Brüsseler Wohnungen
Das Kokain wird in vielen Fällen von Antwerpen nach Brüssel verkauft. Dort sitzen vorwiegend albanische Banden, die den Stoff in Labors strecken und in andere europäische Länder verkaufen. In dieses Geschäft waren die meisten Angeklagten im Brüsseler Prozess verwickelt, auch Eridan Munoz G. Er betrieb Labors in Brüsseler Wohnungen, besorgte Sportwagen und verpflichtete Fahrer, die den Stoff nach Deutschland, Italien und Schweden schafften.
Die Ermittler lasen auf Sky ECC das Codewort «Mario Mario», wenn die Ware ausgeliefert war. «Mario», so lautete einer der Decknamen von Eridan Munoz G. Am 26. Oktober 2021 wurde er festgenommen. Die Smith & Wesson, die er bei sich trug, liess er stecken.
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