Integrative Bildung«Ich bringe meinen Sohn jeden Morgen in eine Schule, die ich nicht möchte»
Immer wieder wehren sich Eltern bis vor Bundesgericht dagegen, dass ihr Kind in eine Sonderschule muss. Warum ein Vater nun sogar bei der UNO darum kämpft.
Midelio ist zwei Jahre alt, als seine Eltern spüren: Er ist anders. Midelio kann sich nicht gut ausdrücken. Auf manche Fragen reagiert er, auf andere gar nicht. «Er lebt in seiner eigenen Welt, und manchmal ist es sehr schwierig, da reinzusehen», sagt Vater Ismail D. Eine Diagnose von Fachspezialisten bringt Gewissheit: Midelio hat frühkindlichen Autismus.
Weil Ismail D. für eine normale, integrierte Zukunft seines Sohnes kämpft, möchte er nicht mit vollständigem Namen auftreten. Midelio heisst in Wirklichkeit anders.
Als er das Kindergarten-Alter erreicht, erstellt der schulpsychologische Dienst einen Bericht, den die Familie über Jahre beschäftigen wird. Midelio wird wegen des Berichts in eine Sonderschule für Kinder mit geistiger Behinderung zugewiesen – gegen den Willen der Eltern.
Seit zweieinhalb Jahren wehren sie sich juristisch. Zuletzt vor dem Bundesgericht. Doch sie blitzten stets ab.
Er zieht jetzt als Erster in der Schweiz vor einen Ausschuss der UNO. Midelios Fall soll ein Exempel statuieren.
Damit sind sie nicht allein. Immer wieder wehren sich Eltern dagegen, dass ihre Kinder mit Behinderung in eine Sonderschule müssen. Meist erfolglos. Gerade im September wies das Bundesgericht eine Beschwerde ab – das Kind mit Trisomie 21 wurde gegen den Willen der Eltern in die Sonderschule eingewiesen.
Es ist ein gewaltiges Spannungsfeld: Zwar gilt in der Schweiz seit 2011 der Grundsatz «Integration vor Separation» in der Bildung. Gleichzeitig hadern Lehrpersonen ohnehin mit den vielen Ansprüchen.
Mittendrin sind Väter wie Ismail D. Er zieht jetzt als Erster in der Schweiz vor einen Ausschuss der UNO. Midelios Fall soll ein Exempel statuieren.
Die Sorge, dass der Sohn ein Sonderfall bleibt
«Ich bringe meinen Sohn jeden Morgen in eine Schule, in die ich nicht möchte», sagt D. «Weil ich überzeugt bin, dass er dort nicht angemessen gefördert werden kann.»
Midelio ist heute acht Jahre alt und das mittlere von drei Kindern. Sein Vater versucht gerade, Midelio im Wohnzimmer seines Hauses im Luzerner Hinterland einen Pullover anzuziehen. Dieser wehrt sich, rennt immer wieder davon, schaut misstrauisch die Journalistin an. Er hat Mühe mit sozialer Interaktion, spricht unverständlich – es sind typische autistische Verhaltensweisen.
«Ich bin überzeugt, dass er stark von den anderen Kindern in der Regelschule lernen und profitieren könnte.»
Die Schulpsychologin vermutete damals, er habe eine starke Intelligenzminderung. Sie räumte aber gleichzeitig ein, dass sie nicht beurteilen könne, inwiefern sein Autismus Midelio daran hindere, seine kognitiven Fähigkeiten zu zeigen. Kurzum: Der Intelligenztest konnte nicht richtig durchgeführt werden.
Midelio besucht heute eine heilpädagogische Schule in einer grösseren Ortschaft im Kanton, eine Sonderschule für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. In seiner Klasse habe es praktisch nur Kinder im Autismusspektrum, sagt D. «Sie können kaum miteinander reden oder spielen. Gspäändli sein? Das gibt es dort nicht.»
Die Eltern befürchten, dass ihr Sohn langfristig ein Sonderfall bleibt. Dass er Mühe haben wird, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. «Ich bin überzeugt, dass er stark von den anderen Kindern in der Regelschule lernen und profitieren könnte», so der Vater.
Das zeigen auch diverse Studien: Inklusive Bildung führt bei Kindern mit Behinderung zu besseren Lernerfolgen und steigert ihre Ausbildungs- und Berufschancen.
Lehrpersonen und Kantone unter Druck
Auf der anderen Seite ist es für Lehrpersonen sehr anspruchsvoll, wenn sie Kinder mit Autismus oder Trisomie 21 neben allen anderen betreuen müssen. In mehreren Kantonen wurden gar Forderungen laut, wieder Kleinklassen einzuführen.
Die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, sagte jüngst in der NZZ, dass die meisten Lehrpersonen nicht zum alten System zurückkehren wollen. Vielmehr zeige die Diskussion, dass Lehrpersonen Mühe bekunden, die hohen, unzähligen und vielfältigen Anforderungen «jederzeit und vollumfänglich zu erfüllen». Rösler findet, es brauche zwei Lehrpersonen pro Klassenzimmer.
Rechtlich ist die Lage so: Das Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet die Kantone, dass sie – so weit wie möglich und dem Kindeswohl entsprechend – die Integration in die Regelschule fördern. Zudem haben Kantone wie Luzern in einem interkantonalen Konkordat eingewilligt, integrative Lösungen den separierenden vorzuziehen.
Die Kantone sind es auch, die entscheiden, ob ein Kind an eine separative Sonderschule muss.
«Für jeden Behinderungsbereich gibt es hinterlegte Kriterien, die beurteilt werden», sagt Martina Krieg von der Dienststelle Volksschulbildung Kanton Luzern. Beurteilt wird neben kognitiven Fähigkeiten auch, ob das familiäre und schulische Umfeld gegeben ist. Sprich: ob die Schule genug Betreuung bieten kann. Denn, so Krieg: «Herausfordernd für Schulen ist das fehlende Fachpersonal.»
Eltern ziehen mehrmals vor Gericht – vergeblich
«Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht», sagt Bruno Achermann. Er ist ehemaliger Dozent der Pädagogischen Hochschule Luzern und hat eine Weiterbildung für integrative Förderung konzipiert und geleitet. Er kennt Midelios Familie privat und unterstützt sie. «Jedes Kind hat ein Anrecht darauf, in eine Regelschule zu gehen und eine individuell hochwertige Unterstützung zu erhalten.»
Auch der Bund hat sich zu einem inklusiven Bildungssystem «auf allen Ebenen» verpflichtet. Nämlich mit der Behindertenrechtskonvention der UNO, die die Schweiz unterzeichnet hat. Sie verlangt auch, dass Menschen mit Behinderung mit anderen aus ihrem Umfeld zur Schule gehen können.
Bei Midelio wurde nie abgeklärt, welche Massnahmen er denn bräuchte.
Doch Midelio muss in eine andere Schule gehen als die Kinder in seinem Dorf. «Dabei ist es für die langfristige Entwicklung jedes Kindes wichtig, in seinem sozialen Umfeld aufzuwachsen – gerade bei Kindern mit besonderen Schwierigkeiten», sagt Achermann.
Unterstützt von Inclusion Handicap, der Dachorganisation der Behindertenverbände, fochten sie Midelios Sonderschulung im Frühling 2021 beim kantonalen Bildungsdepartement an. Dann beim Kantonsgericht. Und zuletzt beim Bundesgericht. Sie blitzten stets ab.
Konzentration darauf, was Kind nicht kann
Das Bundesgericht begründete sein Urteil, dass «praxisgemäss kein absoluter Anspruch auf Integration in die Regelschule» bestehe. Können die erforderlichen Sondermassnahmen in einer Regelschule nicht umgesetzt werden, sei es gerechtfertigt, ein Kind in die Sonderschule einzuweisen.
Nur: Bei Midelio wurde nie abgeklärt, welche Massnahmen er denn bräuchte. «Der Fall ist aus unserer Sicht besonders stossend», sagt Nuria Frei. Sie ist Rechtsanwältin bei Inclusion Handicap. Die Organisation unterstützt Midelios Familie, um damit einen Präzedenzfall zu schaffen.
«Die Abklärungsverfahren orientieren sich immer noch stark am sogenannten medizinischen Modell: Statt auf den Fähigkeiten des Kindes aufzubauen, konzentriert man sich darauf, was das Kind nicht kann», sagt Frei. Bei Midelios Abklärung war keine Fachperson für Autismus involviert. «Auch die tatsächlich benötigte Unterstützung in der Regelschule wurde nie abgeklärt, sondern es wurde von Anfang an einfach pauschal behauptet, die Sonderschule entspräche dem Kindeswohl besser.» Midelio wurde in der Folge direkt in die Sonderschule geschickt.
UNO rügte Schweiz bereits
Die Schweiz kassierte bereits Rüffel von der UNO wegen der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Der UN-Ausschuss kritisierte in einem Bericht im Frühling 2022 die «hohe Anzahl Kinder», die in separative Sonderschulen geschickt würden. Es würden zu wenig Ressourcen in Regelschulen eingesetzt, um die integrative Bildung zu gewährleisten. Es habe etwa zu wenig Lehrpersonen mit speziellen Qualifikationen.
Auch die Zahlen sprechen für sich: Seit 2017 gingen stets rund 1,8 Prozent aller Schülerinnen und Schüler der obligatorischen Schule an eine Sonderschule. Es wurden also nicht mehr Kinder integriert, im Gegenteil: Im letzten Schuljahr stieg der Anteil an Sonderschulen leicht.
Warum geht es mit der Integration also nicht schneller voran?
Bei der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) heisst es, die Kantone seien verantwortlich dafür. Zur Rüge des UN-Ausschusses sagt die EDK, dass der Einbezug von Menschen mit Behinderungen zentral sei. Wie schnell die integrative Bildung vorankomme, hänge aber auch von den Möglichkeiten der Bildungsverantwortlichen und Lehrpersonen ab. Man müsse für alle Betroffenen «das richtige und zumutbare Tempo» finden.
Jetzt geht der Fall zur UNO
Midelios Fall geht nun weiter zum Ausschuss der UNO-Kinderrechtskonvention. Inclusion Handicap will das Bundesgerichtsurteil vom Ausschuss prüfen lassen. «Wir wünschen uns, dass der Entscheid die Schweizer Gerichte dazu bewegt, die Rechte von Menschen mit Behinderungen, so wie sie in der UNO-Behindertenrechtskonvention und der UNO-Kinderrechtskonvention verankert sind, ernster zu nehmen als bisher», sagt Frei.
Zurück im Luzerner Hinterland, streicht Ismail D. seinem Sohn über den Kopf. Midelio spüre, wie sehr die Sache seinen Vater beschäftige. «Er hat die Fähigkeit, jemanden anzuschauen und sofort zu merken, wie es ihm geht.»
Natürlich hätten die Eltern Respekt davor, dass ihr Sohn in der Regelschule den anderen Kindern hinterherhinken würde. «Ich habe nicht die Erwartung, dass er dahin geht und Mathe oder Deutsch lernt wie alle anderen. Aber ich wünsche mir, dass er – und alle anderen Kinder mit Behinderung – mit ihnen leben und wachsen kann.» Und – das ist dem Vater sehr wichtig – «dass Midelio später weiss, dass ich für ihn gekämpft habe».
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