Gastbeitrag zum BildungssystemDie Umsetzung der inklusiven Schule ist mangelhaft
Eine Schule für alle, die sich den individuellen Bedürfnissen anpasst: Dieses Ziel ist gut. Erreichen werden wir es nur, wenn wir die Schulen endlich mehr unterstützen.

Seit zwei Jahrzehnten arbeitet die Schweiz an der Umsetzung der inklusiven Schule, doch der Begriff wurde schon zu Beginn zur «integrativen» Schule verwässert. Das Fernziel bleibt die Inklusion – also eine Schule für alle, welche sich den individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler anpasst –, weshalb der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) den Begriff der inklusionsorientierten Schule verwendet. Dies soll betonen, dass Inklusion ein fortlaufender Prozess und kein abgeschlossener Zustand ist. Das Schulsystem soll kontinuierlich und pragmatisch auf die Leitidee der inklusiven Schule hin weiterentwickelt werden. Diese Ziele sind gesetzlich verankert.
Der LCH unterstützte die Leitidee einer inklusiven Schule von Anfang an, aber nur unter dem Vorbehalt, dass die notwendigen Rahmenbedingungen vorhanden sind. Zwei Jahrzehnte später wird deutlich, dass es vielerorts immer noch an Personal, Zeit, Strukturen und geeigneten Räumlichkeiten fehlt. Nicht erst seit dem akuten Fachpersonenmangel an Schulen mehren sich Meldungen von Lehr- und Fachpersonen, dass sie bei der Umsetzung der inklusionsorientierten Schule an ihre Grenzen stossen. Das zentrale Problem liegt nicht am Ziel der inklusiven Schule, sondern in der inkonsequenten Umsetzung. Die alten Strukturen der Regelschule wurden weitgehend beibehalten und lediglich durch punktuelle Unterstützungsmassnahmen ergänzt.
Mehr Ressourcen, spezialisiertes Personal
Verschiedentlich werden Forderungen nach der Wiedereinführung von separativen Kleinklassen laut. Während Kritikerinnen und Kritiker darin das Ende der inklusiven Schule sehen, muss beachtet werden, dass Kleinklassen vielerorts gar nie abgeschafft, sondern in neuen Formaten wie Lerninseln oder Förderklassen weitergeführt wurden. Doch wie passt dies zu einem inklusionsorientierten Schulsystem? Selbst in einem inklusionsorientierten Schulsystem können separative Angebote – also solche ausserhalb der Regelklasse – erforderlich sein, um bei Bedarf in kleineren Settings gezielte Unterstützung durch Fachpersonen bereitzustellen. Entscheidend ist, dass auch bei separativen Angeboten die Förderung und nicht eine Aussonderung im Zentrum steht. Dies entspricht durchaus den Zielen der inklusiven Schule. Vielfältige Bedürfnisse brauchen vielfältige Lösungen.
Ein zentrales Anliegen des LCH ist es, eine Balance zu finden zwischen der Notwendigkeit, adäquate Förderung und Unterstützung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen anzubieten, und der Arbeitsbelastung der Lehr- und Fachpersonen. Dies erfordert ausreichende Ressourcen und spezialisiertes Personal, um inklusive und separative Förderangebote effektiv zu gestalten. Zudem müssen Lehrpläne, Unterrichtsmethoden, Beurteilungsformen und die Schulorganisation insgesamt so flexibel und offen gestaltet werden, dass sie den unterschiedlichen Lernwegen der Schülerinnen und Schüler gerecht werden.
Darüber hinaus geht es bei der inklusiven Bildung nicht nur um pädagogische Konzepte, Ressourcen und Schulstrukturen, sondern auch um eine Kultur des Miteinanders, der Chancengerechtigkeit, der Anerkennung und Wertschätzung von Diversität. Der LCH unterstreicht daher auch die Bedeutung einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung. Denn Inklusion in der Bildung ist letztlich ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der wir leben möchten.
Beat A. Schwendimann ist Leiter Pädagogik beim Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH).
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