Gastbeitrag zu SchulnotenFalsche Erwartungen an das Schulzeugnis
Die Wirtschaft will, dass Schulen ein scanbares Schülerdossier abliefern. Die schulische Beurteilung ersetze aber nie das gegenseitige Kennenlernen, sagt die oberste Schweizer Lehrerin.

Schulzeugnisse seien unbrauchbar für die Wirtschaft. Auf diesen Punkt lässt sich die Botschaft des Positionspapiers «Fehlgeleitete Diskussion über Schulnoten» der Wirtschaftsverbände Economiesuisse und Arbeitgeberverband bringen. Diese fundamentale Kritik ist starker Tobak.
Lehrerinnen und Lehrer investieren unzählige Arbeitsstunden in das Erstellen von Tests, ins Korrigieren, in die Auswertung und in die Besprechung der Resultate mit ihren Schülerinnen und Schülern. Das ist viel mehr als blosse Beurteilung. Das ist pädagogische Arbeit, die sich nicht durch einen standardisierten und schweizweiten Test ersetzen lässt. Zumal es mit Multicheck oder Stellwerktest schon solche Instrumente gibt. Nur: Die gewünschte Aussagekraft haben diese Instrumente ebenfalls nicht. Sie erhöhen nur den in den letzten Jahren sowieso gewachsenen Druck auf Schülerinnen und Schüler.
In einem Punkt stimme ich den Autoren des Papiers zu: Um Noten geht es nicht. Die äussere Form der Beurteilung ist nicht entscheidend. Es geht um die Haltung dahinter: Die Beurteilung muss förderorientiert sein. Sie soll den Schülerinnen und Schülern helfen, sich realistisch einzuschätzen.
Aber keine schulische Beurteilung wird jemals das persönliche Kennenlernen von Kandidatinnen und Kandidaten für eine Lehre vor Ort im Betrieb ersetzen. Darum stützen sich viele Lehrbetriebe bereits heute nur teilweise oder sogar gar nicht auf die Leistungsnachweise von Jugendlichen ab. Diese Betriebe wissen, dass die Anforderungsprofile in einem bestimmten Beruf nicht unbedingt mit den Anforderungen in der Schule korrelieren. Die Motivation, das soziale Verhalten und die Rücksichtnahme auf die Gegebenheiten vor Ort sind wichtiger als Zeugnisnoten.
Nötig ist eine faire Rekrutierung
Damit die dringend benötigten Fachkräfte ausgebildet werden, braucht es mehr als ein schnell «scanbares Testdossier». Ausbildungsbetriebe müssen sich vielmehr zu einem fairen Rekrutierungsprozess bekennen: zu einem Verfahren, das den jungen Menschen ins Zentrum stellt und das den individuellen Unterschieden der angehenden Lernenden gerecht wird. Nur so können sie in vernünftiger Art an die individuelle Förderung anknüpfen, die heutzutage in der Schule gelebt wird. Nötig sind nicht zusätzliche Hürden, sondern dass man sich mehr Zeit für die jungen Menschen nimmt, die sich gerade in einer wichtigen Phase ihres Lebens befinden.
Immerhin hat die Wirtschaft mit ihrem Positionspapier den richtigen Zeitpunkt getroffen. Glücklicherweise sind wir in der Schweiz an einem Punkt angelangt, an dem tatsächlich breit über die Art und Weise der Beurteilung nachgedacht wird. Derzeit sind viele Schulen auf der Suche nach einer zeitgemässen Form der Beurteilung. Sie soll neben den klassischen Leistungen auch die immer wichtiger werdenden überfachlichen Qualifikationen, die echten Sozialkompetenzen würdigen. Natürlich ist es nicht zielführend, wenn dann jede Schule ihr eigenes System entwickelt. Das würde Schulen und Lehrbetriebe tatsächlich überfordern.
Ich lade die Wirtschaft ein, an diesem Prozess teilzunehmen. Besser als Fundamentalkritik ist allemal, gemeinsam eine zeitgemässe Lösung zu suchen.
Dagmar Rösler ist Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH).
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