B.1.617 auf dem VormarschIndische Virusvariante bedroht Lockerungspläne der Briten
Bislang hält die britische Regierung an ihrem Vorhaben fest, alle Corona-Massnahmen am 21. Juni aufzuheben. Doch Wissenschaftler warnen öffentlich davor, die Öffnungspläne auch wirklich umzusetzen.
In der Schweiz kommt seit heute die Alltagsnormalität langsam zurück. Zwar gelten noch immer viele Sicherheitsregeln, trotzdem schnuppern wir dank der Lockerungen der Corona-Massnahmen an einer Prise Freiheit. Und während unsereins sich darüber freut, dass die Fallzahlen sinken, steigen sie in Grossbritannien wieder.
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Das Land, das durch einen relativ strikten Lockdown, gekoppelt mit einer perfekt organisierten Impfaktion, in der Bevölkerung für Zuversicht gesorgt hatte, verzeichnet derzeit die höchsten Infektionszahlen seit März. Wissenschaftler warnen öffentlich davor, die eigentlich für den 21. Juni vorgesehene völlige Öffnung des Landes umzusetzen.
Noch zu Ostern hatte Premierminister Boris Johnson versprochen, dass es bei der schrittweisen Aufhebung des Lockdown «kein Zurück» mehr geben wird. Nun heisst es aus der Downing Street, dass man abwarte; weitere Entscheidungen oder Korrekturen des Öffnungsplanes sind planmässig auf den 14. Juni vorgesehen.
Beginn der dritten Welle
Er glaube, die dritte Welle habe begonnen, sagte Martin McKee, Professor für europäische öffentliche Gesundheit am Londoner Institut für Hygiene, dem «Guardian». Es sei klar ersichtlich, dass die aktuellen Schutzmassnahmen in vielen Teilen des Landes den rasanten Anstieg der Fälle nicht aufhalte, so der Experte. «Wenn es kein Wunder gibt, ist die weitere Öffnung im Juni ein grosses Risiko.»
Auch der Virologe Dr. Stephen Griffin von der University of Leeds hebt den Mahnfinger: «Wir haben eine Variante, die besorgniserregend ist und sich im Land exponentiell ausbreitet. Es gehe nicht darum, wieder in den Lockdown zu gehen, «aber ich denke, wir sollten auf jeden Fall pausieren», so Griffin.
Die indische Variante des Coronavirus macht in Grossbritannien mittlerweile vielerorts zwei Drittel aller Fälle aus. Am letzten Mittwoch meldete die britische Gesundheitsbehörde fast 7000 Fälle dieser Variante – mehr als doppelt so viele wie in der Vorwoche. Die zuerst in Indien entdeckte Variante könnte bis zu 80 Prozent leichter übertragbar sein als die bislang vorherrschende britische Variante. Das sagte der Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College London in einer Onlinepressekonferenz letzte Woche. Es gebe dazu aber noch keine belastbaren Daten, so der Wissenschaftler weiter. Gewiss sei bislang nur, dass B.1.617.2 einen Vorteil habe.
Höheres Risiko für Ungeimpfte
Bis jetzt ist knapp die Hälfte der Erwachsenen in Grossbritannien vollständig geimpft. Doch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft die indische Variante als ansteckender und möglicherweise auch unempfindlicher gegen Antikörper ein. Dazu würde passen, dass in einigen Gebieten die Zahl der Hospitalisationen wieder zugenommen hat – betroffen waren mehrheitlich ungeimpfte Personen.
Darauf beruft sich auch die Regierung, die da betont, dass die allermeisten Infizierten nicht geimpft gewesen seien. Die Impfstoffe schützten also. Zugelassen sind im Land die Vakzine von AstraZeneca, Biontech/Pfizer und Moderna. Als vierten Impfstoff hat das Gesundheitsministerium nun auch das Mittel des US-Unternehmens Johnson & Johnson zugelassen.
Trotzdem haben einige Städte ihre Massnahmen wieder verschärft. So wird den Bewohnern unter anderem weiterhin Social Distancing empfohlen, aber auch, sich draussen und nicht drinnen zu treffen.
Indische und britische Variante wohl ähnlich ansteckend
Laut Laurent Kaiser, Infektiologe am Universitätsspital Genf, zeigen jüngste Erkenntnisse, dass die Übertragbarkeit bei der indischen und der britischen Variante des Coronavirus ähnlich ist. Es gebe aber keine Anzeichen dafür, dass die Krankheitsverläufe bei der indischen Variante schwerer seien. Dagegen gebe es Informationen, dass die «Wirksamkeit der Impfung bei der indischen Variante etwas niedriger sein könnte.»
Ungeklärt sei, ob die indische Variante in der Schweiz nun «im Wettbewerb» mit der heute vorherrschenden britischen Variante sei. «Aber es gibt keine Gründe, anzunehmen, dass die Verläufe bei der indischen Variante schwerer sind als bei der britischen Variante», sagte er.
Für das Bundesamt für Gesundheit zählt Grossbritannien seit Donnerstag jedenfalls als «Staat mit einer risikoreichen Variante». Deshalb wurde er wieder auf die Risikoliste aufgenommen. Auch Deutschland und Frankreich haben die Einreise britischer Bürger beschränkt.
Einreisende aus dem Vereinigten Königreich brauchen ab diesem Zeitpunkt neben einer elektronischen Registrierung einen negativen Test. Zudem müssen sie sich nach der Ankunft in Quarantäne begeben. Das Vereinigte Königreich gilt nun wie Brasilien, Indien, Kanada, Nepal und Südafrika als Staat, in dem sich eine Mutation des Coronavirus ausbreitet, von der im Vergleich zu der in der Schweiz verbreiteten Virusform eine höhere Ansteckungsgefahr ausgeht.
Indische Variante in der Schweiz
Mittlerweile ist die indische Variante in mindestens 44 Ländern präsent. In der Schweiz (genauer: im Kanton Solothurn) tauchte die Mutation Ende März erstmals auf. Darauf gestossen waren die ETH-Professorin Tanja Stadler und ihr Team. Als Schweizer Hotspot gilt das internationale Genf. Laut BAG wurden bislang knapp 40 Fälle in der Schweiz nachgewiesen. Die Verbreitung hierzulande sei momentan nicht besorgniserregend, aber man beobachte sie genau, heisst es seitens BAG.
«Es ist durchaus denkbar, dass sich die indische Variante auch bei uns ausbreitet», meint Andreas Cerny, Infektiologe am Moncucco-Spital in Lugano. Es sei ein Lauf gegen die Zeit: Je schneller man impfe, desto weniger Probleme habe man in den nächsten Monaten.
nag/sda/afp
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