5 Fragen zum CoronavirusWie gefährlich ist die Variante aus Indien?
Die neue «besorgniserregende» Mutation B.1.617 kursiert auch in der Schweiz. Sie stammt aus Indien und breitet sich gerade in Grossbritannien aus. Wird sie sich auch hier durchsetzen?
Wie verbreitet ist die neue Variante in der Schweiz?
Einen ersten Fall hatte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Ende April registriert. Eine Reisende hatte das Virus aus Indien in die Schweiz gebracht.
Letzte Woche wurde die indische Mutation in Genf bei zwei Reiserrückkehrern identifiziert. Etwa 20 Fälle seien dort bis letzten Freitag bei Menschen festgestellt worden, die nicht auf Reisen waren, sagte Kantonsärztin Aglaé Tardin. Diese Variante verbreite sich also in Genf. Die Rückverfolgung der Kontakte wurde inzwischen verstärkt.
Inzwischen seien bis heute in der Schweiz knapp 50 Fälle nach Sequenzierungen der Coronaviren bei Infizierten bestätigt worden, sagt Tanja Stadler von der ETH Zürich. Das heisst, das gesamte Erbgut der Viren, das Genom, wird dabei untersucht. Pro Woche werden gemäss BAG in der Schweiz 2000 Genome sequenziert. So können neue Varianten früh entdeckt und überwacht werden. (Eine Übersicht finden Sie hier.)
Die Virusvariante B.1.617 hat sich von Indien aus weltweit verbreitet und ist auch in mehr als zehn europäischen Ländern angekommen, allen voran in Grossbritannien. Bereits in 24 Prozent aller dort sequenzierten Coronavirus-Proben von Infizierten finden Experten die indische Variante.
Der britische Premier Boris Johnson sagte letzte Woche, dass derzeit zwar die gesamte Zahl an Neuinfektionen in Grossbritannien niedrig sei, aber die Variante B.1.617 den geplanten vierten Öffnungsschritt im Juni gefährden könnte.
Das erinnert an die Situation Ende letzten Jahres, als in Südengland die neue Variante B.1.1.7 auftauchte, die sich binnen weniger Monate erst in Grossbritannien und von dort aus in Europa und der Schweiz dermassen verbreitete, dass sie das Ursprungsvirus fast vollständig verdrängt hat. Inzwischen stecken sich hierzulande über 92 Prozent der Infizierten mit der britischen Variante an. Die indische Variante machte Anfang Mai unter den sequenzierten Sars-CoV-2-Viren 0,3 Prozent aus.
Um neue Varianten schnell zu entdecken, finanziert der Bund seit dem 1. Mai sogenannte mutationsspezifische PCR-Tests, die gezielt die charakteristisch mutierten Viren erkennen können. (Die vorherrschende britische Variante B.1.1.7 zählt aber nicht mehr dazu.)
Was ist an der Variante aus Indien besonders?
Letzte Woche stufte die Weltgesundheitsorganisation die indische Variante B.1.617 als «variant of concern» ein, also als besorgniserregende Variante.
Damit stehen nun vier Coronavirus-Varianten unter strenger Beobachtung.
Die kursierenden Sars-CoV-2-Coronaviren verändern sich ständig und sammeln im Erbgut verschiedene Mutationen an – meist ohne Auswirkungen. Als «besorgniserregend» gelten hingegen Mutationen, wenn die neuen Veränderungen zu unerwünschten Eigenschaften führen – also zu Viren, die ansteckender sind, die schwerere Krankheitsverläufe auslösen oder dem Immunsystem entkommen können.
Die Variante aus Indien trägt bestimmte Veränderungen im Oberflächenprotein (Spikeprotein) an der Stelle, wo sich das Virus an eine Körperzelle anheftet. Vermutlich wird dadurch eine Infektion erleichtert. Eine weitere Veränderung deutet darauf hin, dass die Variante dem Immunsystem entkommen könnte. Die Sorge ist, dass sich Personen, die bereits eine Corona-Infektion durchgemacht haben oder die geimpft sind, noch einmal infizieren könnten.
Was ist über eine mögliche Ansteckung und die Gefährlichkeit bekannt?
In Indien infizieren sich derzeit etwa 400’000 Menschen mit Sars-CoV-2 – pro Tag. Die Variante B.1.617 hat sich dabei in den letzten Wochen rasant ausgebreitet. Dominierte beispielsweise Ende April im Grossraum Delhi noch die britische Variante B.1.1.7, überwiegt dort inzwischen B.1.617. Diese Variante stammt vermutlich aus dem Bundesstaat Maharashtra mit der Hauptstadt Mumbai, wo sie sich seit Februar rasch durchgesetzt hat.
Noch ist nicht bekannt, ob die Variante B.1.617 die alleinige Ursache für die dramatische zweite Welle in Indien ist. Schliesslich lockerten die indischen Behörden seit Anfang des Jahres die strengen Schutzmassnahmen. Auch Zusammenkünfte und religiöse Feste wie das Kumbh Mela, bei dem sich im April eine Million Hindus trafen, dürften die rapide Ausbreitung der Viren beschleunigt haben.
Könnte die Variante aus Indien auch in Europa die vorherrschende britische Variante verdrängen?
Bereits Ende Mai oder Anfang Juni könne die Variante B.1.617 in London dominieren, mutmasst die Epidemiologin Deepti Gurdasani von der Queen Mary University of London gegenüber dem «Guardian». Ob das auch in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz der Fall sein könnte, ist unbekannt. «Wir wissen noch nicht, wie stark der beobachtete Anstieg der Infektionszahlen mit der Variante B.1.617 auf äussere Ereignisse zurückgeht», sagt Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel. Das heisst, auch gelockerte Massnahmen oder das enge Zusammensein von Menschen könnten die Ausbreitung der Variante beschleunigt haben.
Der deutsche Virologe Christian Drosten von der Charité in Berlin bringt die steigenden Infektionszahlen mit der indischen Variante im Vereinigten Königreich damit in Verbindung, dass die Variante möglicherweise dem Immunsystem ausweichen kann. Das heisst also, dass der Virusstamm B.1.617 einen Vorteil hat, wenn er auf eine Bevölkerung trifft, die bereits zu grossen Teilen geimpft ist oder wegen einer durchgemachten Infektion immun ist. Das sei aber in Deutschland – und auch in der Schweiz – noch nicht der Fall. Insofern könnte hierzulande der Effekt kleiner sein.
Wie wirksam sind die Impfstoffe?
Wenn sich herausstellen sollte, dass die Variante B.1.617 bei Genesenen oder Geimpften zu schweren Erkrankungen führt, wäre das ein Hinweis darauf, dass die Variante dem Immunsystem ausweichen kann. Sprich, die bisherigen Impfstoffe wären dann unwirksam. «Dafür gibt es aber bis jetzt keine Hinweise», sagt Richard Neher.
Zwar haben erste Laborstudien gezeigt, dass die Antikörper im Blut von Geimpften oder Genesenen weniger gut die Variante B.1.617 bekämpfen können im Vergleich zum Ursprungsvirus. Dennoch gehen Fachleute bisher davon aus, dass die Impfstoffe noch wirksam sind. Da es nämlich auch eine unspezifische Immunantwort durch sogenannte T-Zellen gibt, sollte ein bisheriger Impfschutz wirksam bleiben.
Beispielsweise dürfte der Biontech/Pfizer-Impfstoff noch schützen. Die indische Variante habe ähnliche Veränderungen wie auch andere Corona-Varianten, gegen die der Impfstoff wirke, sagte Biontech-Chef Uğur Şahin gegenüber dem Deutschlandfunk. Laut einer neuen US-Studie ist wohl auch der Impfstoff von Moderna gegen die indische Virus-Variante hoch wirksam.
Zudem können die neuen Corona-Impfstoffe mit geringem Aufwand an veränderte Viren angepasst werden. Firmen wie Moderna und Biontech/Pfizer, die derzeit die Impfstoffe liefern, die in der Schweiz eingesetzt werden, sind dabei, ihre Vakzine anzupassen. Auch sie beobachten die entstehenden Varianten aufmerksam.
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