AboIm Reifen Alter aufs Rennvelo«Der Arsch ist eine Problemzone»
Unser Autor sass noch nie auf einem Rennrad. Dann liess er sich zu einer Veloreise nach Teneriffa überreden. Was er leider nicht wusste: Dort trainieren sonst die Profis.

Als ich nach oben in Richtung Vulkankegel schaue, frage ich mich, warum in aller Welt ich mir das antue. Wir sind hier über den Wolken auf 1600 Metern. Der harte Rennradsattel drückt schon vom Probesitzen am Hintern – bevor ich einen Meter gefahren bin.
Die Strasse in Richtung des Vulkans Teide vor mir geht so steil bergauf, dass ich mit meinem Hollandrad nach höchstens zehn Metern absteigen müsste. Selbst das fahre ich zu Hause allerdings selten. Meistens bin ich stattdessen zu Fuss und mit dem ÖV unterwegs. Aber ein Bekannter hat mich gefragt, ob ich kurzfristig bei einer Veloreise einen frei gewordenen Platz einnehmen wolle.
Ich habe mich gewehrt, aber nachdem er mir versichert hatte, dass auf Anfänger Rücksicht genommen wird [wie Einsteiger:innen richtig trainieren, erfahren Sie hier], habe ich mich überreden lassen zu dem einwöchigen Trip nach Teneriffa, wo das Wetter das gesamte Jahr über angenehm ist: trocken, sonnig, um die 25 Grad. Wo es gleichzeitig mit dem Teide den höchsten Berg Spaniens gibt und wo deshalb viele Radprofis trainieren.
Das war für mich natürlich das Wichtigste. Es wäre nämlich sehr gut möglich, dass ich Talent zum Radfahren habe. Schon als Kind konnte ich sehr gut hüpfen – und dafür braucht man: starke Beine!
Aber während etwa Jan Ullrich jung vermessen und sein Körper als perfekt für den Radsport erkannt wurde, bin ich niemals auf Rennvelotalent getestet worden. Ja, ich habe es selbst sogar niemals ausprobiert, Rennvelo zu fahren. Könnte also durchaus sein, dass ich ein verhinderter Tour-de-France-Sieger bin.
Ausserdem sprechen jede Menge praktische Überlegungen fürs Rennvelo. Die Sportarten, die mir richtig Spass machen, sind Paddeln und Skifahren – beide vom Wetter abhängig. Und wegen des Klimawandels und ausbleibender Niederschläge nichts, worauf ich bauen kann.
Strassen dagegen sind immer da. Ich würde mir mit dem Velofahren auch lange Anfahrtswege zum Sport sparen, weil ich einfach an der Haustür losfahren könnte. Also warum nicht dort mal ausprobieren, wo für Equipment und fachliche Betreuung gesorgt ist – und ich, falls es mir gar nicht zusagt, einfach ein paar Tage am Meer verbringen könnte?
Am Abend vor der ersten Ausfahrt treffen die Velosportler beim Essen erstmals aufeinander. Die meisten, inklusive Reiseleitung zehn Männer und sechs Frauen, sind extrem drahtig. Ich halte mich direkt an Leo, achtunddreissig, der ein paar Kilo mehr hat als die anderen. Es zeigt sich, dass er, genau wie ich, noch nie auf einem Rennvelo gesessen ist. Auch Bella nicht, aber sie fährt Mountainbike, wenn auch meistens bergab.
«Willkommen zu unserer High-Performance-Radreise», sagt Anatol am Kopf des Tisches, einer unserer Reiseleiter, er blickt zu uns und lächelt süffisant. «Ich bin angespannt», sagt Leo leise. Ich nicke, mein Magen grummelt nervös.
Während die geübten Rennradler am kommenden Morgen eine Bergetappe mit 2200 Meter Höhendifferenz fahren, dürfen Leo, Bella und ich uns mit den Velos vertraut machen, mit dabei Mechaniker Samuel, alles gestellt vom deutschen Velohersteller Rose, der Hobbyfahrer von seinen Produkten überzeugen will.
Die Räder sind superleicht, die Reifen schmal, der Sattel hoch. «Ähm, ich habe das noch nie gemacht – muss ich was beachten?», frage ich, während ich aufzusteigen versuche. Anscheinend sieht das so ungelenk aus, dass Samuel mich fragt: «Aber du kannst schon Velo fahren?» Ich bin mir gerade nicht mehr so sicher, aber ich nicke.
In meinem Zimmer schlüpfe ich in die Rennradklamotten – eine sehr enge Hose und ein nur wenig weiteres Trikot. Ich finde mich damit schon ziemlich sportlich. Wobei meine Partnerin diese Klamotten eher kritisch sieht. Genauer gesagt findet sie – O-Ton – «diese Verwurstpellung extrem unattraktiv». Sie hat sogar angedeutet, dass sie sich von mir trennt, wenn sie mir zu Hause in solchen Klamotten begegnet. Aber ich bin weit weg und fühle mich bereit für grossen Sport.
Unentdeckter Jan Ullrich?
Bevor es losgeht, steht noch ein Mittagessen an, Buffet. Wir laden uns die Teller voll. «Nicht, dass wir vor lauter schwerem Essen nachher den Berg nicht hochkommen», raune ich Leo zu. «Daran wird es dann bestimmt gelegen haben», sagt Leo, er wirkt melancholisch, als ob er mit allem abgeschlossen hätte.
Ich richte mich an dem Gedanken auf, dass ich ein verborgenes Rennvelotalent sein könnte. Ich frage André, einen der Supersportler der Gruppe: «Welchen Körperbau hat eigentlich ein Tour-de-France-Sieger?» – «65 bis 68 Kilo.» – «Das ist ja genau mein Gewicht!», rufe ich. «Vielleicht hätte ich ja auch das Zeug zum guten Radsportler, vielleicht bin ich ein unentdeckter Jan Ullrich?»
André schaut mich etwas mitleidig an. «Tja, wenn du den entsprechenden Motor hast – Jan Ullrich ist als Jugendlicher die dreitausend Meter schon unter zehn Minuten gelaufen.» Ich bin still – ich fand in der Schule schon die tausend Meter total schrecklich und wurde dabei fast überrundet.

Der Bus fährt unsere Gruppe in Richtung Teide, an einem Parkplatz sollen wir aussteigen, um dann den Rest des Berges mit dem Velo nach oben zu fahren. Anatol entscheidet, dass wir nicht zu weit unten losmüssen. Angesichts der Tatsache, dass wir wirklich Anfänger sind, hat er ein Einsehen.
Unten an der Küste, wo unser Hotel ist, war der Himmel klar, doch je mehr wir nach oben kommen, desto finsterer wird es. Plötzlich sind wir im Nebel, am Wegesrand schwarzes Lavagestein, dazwischen Feigenkakteen. Wir sind in den Wolken, die der Passat aus Nordosten bringt. Doch dann wird der Nebel weniger dicht – und plötzlich ist der Himmel blau. Links und rechts ist es braun, es sieht aus, als hätte ein Bagger gerade frisch Erde ausgehoben und sie neben der Strasse aufgetürmt.
In Wirklichkeit handelt es sich um Lava, die vor nicht allzu langer Zeit erstarrt ist, noch nicht vor so langer Zeit wie der Vulkanauswurf, aus dem die Insel besteht, erzählt unser Guide per Mikrofon. Sie stammt vom letzten Ausbruch des Teide um 1909. Doch ich kann mich nicht richtig auf seine Ausführungen konzentrieren.
Wir nähern uns schliesslich dem Ernst des Velofahrens, der Bus hält an einem Aussichtspunkt. Und da stehen wir. Über den Wolken, unterhalb des Vulkans. Die guten Fahrer weisen uns ein. Marcel nimmt sich meiner an. «Dein Helm sitzt schief», sagt er, und während ich diesen zurechtrücke, murmelt er: «Das geht bei der Stylepolizei nicht durch.»
Er befestigt einen Riemen so, dass dieser nicht mehr flattern kann. Die Socken soll ich auch hochziehen, damit ich keinen Abdruck des Kettenblatts auf der Wade bekomme. Dann gibt es aber auch noch einen wichtigeren Tipp: «Beim Bergauffahren nie in einem zu schweren Gang fahren, sonst verkrampft die Muskulatur», sagt Marcel. «Immer schön Frequenz treten.» Ich suche neuen Mut. «Wie sieht eigentlich ein Bergspezialist beim Radfahren aus?», frage ich ihn. Marcel grinst, haut mir auf die Schulter und schiebt mich an. «So wie du!»
Wie ein Bergfloh
Ich trete in die Pedale – und bin erleichtert. Das hier ist doch Velofahren, so wie ich es kenne. Also nicht ganz, denn dieses Velo wiegt nur ein Drittel meines Hollandrads. Die Gänge schalten sich geschmeidig, die Steigung hochzukommen ist kein grösseres Problem. Zumindest auf den ersten Metern. Wir Anfänger fahren los, begleitet von Robin, einem erfahrenen Radfahrer. Die Gruppe lässt uns Vorsprung, umso besser. Aber der Rest der Anfängergruppe kommt anscheinend noch besser klar als ich. Sie fahren mir weg, inklusive Leo. Das hätte ich nicht gedacht, aber ich versuche, mich nur auf mich zu konzentrieren.
Es wird steiler, aber ich merke, dass ich gute Beine habe (so sagt man, habe ich am TV gehört), und bleibe bei meiner Trittfrequenz. Auf einmal habe ich aufgeschlossen zu den anderen, ich fahre von hinten an sie heran – und vorbei! Erst an Leo, dann an den anderen beiden. Statt Fans winken mir blühende Ginstersträucher, dazwischen rote Erde mit sanft violetten Farbtupfern, Skabiose, ähnlich wie bei uns die Flockenblume, nur hier als kleine Büschel konzentriert, um nicht zu vertrocknen. Ist das schön hier oben! Plötzlich fühle ich mich schnell, quasi unschlagbar. Ich bin reif fürs Bergtrikot. Oder nicht?
Oben angekommen fahre ich durch eine Hochebene, die Vegetation ist karger, hier winkt kein Ginster mehr. Die anderen habe ich deklassiert. Es ist einsam hier. Der rote Boden, der weite Blick zum Vulkan, die sengende Sonne – langsam fühle ich mich wie ein Triathlet beim Ironman auf Hawaii. Ein einsamer Kämpfer in der Vulkanwüste. Mit dem entscheidenden Makel: Ich habe kein Wasser. Den Lenker loszulassen, um die Flasche rein- und wieder rauszufingern, war mir beim ersten Versuch zu wackelig auf dem Velo. Nun muss ich anhalten und auf das Begleitfahrzeug warten oder auf Robin, der meine Wasserflasche hat. Nach ein paar Minuten trudeln alle langsam ein.

Dann geht es leicht bergab. Was für ein Tempo, was für eine Aussicht! Wir durchrasen auf schnurgerader Strecke die Weite der Teide-Hochebene, rötliches Gestein, dazwischen tiefgrüne, kniehohe Büsche, links der Vulkan, dann eine Hochebene, beschlossen von einer weiteren Bergkette.
Es erinnert an den Grand Canyon, nur ohne Fluss, alles ist sehr trocken hier oben. Auf dem Asphaltband tauchen vor mir die Cracks auf, Marcel und André, sie unterhalten sich. Ich schalte in einen höheren Gang – und ziehe vorbei. Dass ich die einmal überholt habe! Natürlich nur kurz, dann fahren sie wieder an mir vorbei. Ich kann und will auch gar nicht schneller sein hier, bergab. Das hohe Tempo ist mir unheimlich. Nach und nach überholen mich alle. Bald bin ich wieder allein, diesmal Letzter, aber trotzdem glücklich – die Bergwertung habe ich gewonnen. Ich bin eben ein Bergfloh.
Wir wollen uns alle am Aussichtspunkt La Ruleta sammeln, wo braune Felsfinger in den blauen Himmel ragen. Von hier hat man einen weiten Blick über die gesamte Hochebene. Man sieht, wo der schwarze Lavastrom einst stoppte, daneben gelber Sand. Unwirklich schöne Unwirtlichkeit im orangen Abendlicht. Es ist erhebend, dass ich mir den Blick selbst mit dem Velo erarbeitet habe – und weil ich nicht ganz so schnell war, hatte ich Zeit, vom Velo aus die Aussicht zu geniessen. Als ich dann bei meiner Gruppe vorfahre, machen sie eine La-Ola-Welle und applaudieren.
Komm, wir steigen ab
Ich bin so euphorisch, dass ich gleich noch weiterstrampeln will. «Klar, bis da hinten auf die Anhöhe könntet ihr noch fahren», sagt jemand. Und plötzlich sind es allein wir drei Anfänger, die sich dorthin auf den Weg machen. «Ich lasse mich immer zu komplettem Blödsinn überreden», sagt Leo mit rotem Gesicht.
Es zeigt sich schnell, dass er recht hat. Die Strasse verläuft erst mal schnurgerade durch die Lavalandschaft, es sieht aus, als könnte man hier mächtig Speed machen – wir allerdings kommen kaum vom Fleck. «Was ist das für ein Mist, es rollt überhaupt nicht!», rufe ich. Ich schaue runter aufs Kettenblatt – ich bin schon im kleinsten Gang und bewege mich kaum vorwärts. Mein Verdacht: der Bodenbelag – sehr dunkler, rauer Asphalt.
Der Pappschnee der Strasse bremst uns aus! «Davor muss man doch warnen, das Zeug ist unfahrbar», rufe ich. Leo fährt rechts ran und steigt ab. Ich will noch nicht aufgeben und trete weiter in die Pedale. Unser Begleitfahrzeug fährt neben mir her. «Komm, steig ab, wir schaffen es sonst nicht rechtzeitig zum Abendessen», sagt Paul. Er muss mich nicht lange überreden. Leo sitzt schon im Wagen und sagt: «Das ging gar nicht bergab hier, sondern bergauf – ich habe es gemerkt, als ich ein paar Meter in die andere Richtung gefahren bin!» Verrückt, anscheinend eine optische Täuschung.
Vor dem Restaurant wartet schon der Rest des Teams. Glückwunsch, Abklatschen. Die Vollblutsportler solidarisieren sich mit den Anfängern. Ich fühle mich hier angenommen. «Das ist das Schöne am Rennradfahren», sagt Paul. «Jeder kann mitmachen, und man hat schnell Erfolgserlebnisse.» Es stimmt, ich bin vorher lediglich ohne Ehrgeiz gejoggt und machte zusätzlich ein bisschen Zirkeltraining mit dem eigenen Körpergewicht – und das hat gereicht, um recht locker mitzuhalten. Wenn, ja, wenn die Sache mit dem Hintern nicht wäre.
Am Ende der Reise, nach unzähligen Anstiegen, Abfahrten und Aussichten, kann ich kaum mehr auf dem Sattel sitzen. Ich erzähle Basti, Physiotherapeut und seit zwanzig Jahren passionierter Rennvelofahrer, von meinen Schmerzen.
«Der Arsch ist eine Problemzone – selbst bei mir, wenn ich mal zwei Wochen nicht fahren konnte», sagt er. «Es gibt verschiedene Hosenpolster, unterschiedliche Sattel – mit der Zeit findet man die richtige Ausrüstung, aber man muss regelmässig fahren, damit man keine Schmerzen hat.» Das beruhigt mich, und Basti ermutigt mich weiter: «Wie gut man beim Rennrad-Radfahren werden kann, ist genetisch bedingt – es gibt durchaus Menschen im fortgeschrittenen Alter, die merken, dass sie Talent haben und schnell besser werden als etwa ich.»
Ich, der König der Bergfahrer, ich sehe es schon vor mir. Also irgendwann, wenn meine Kinder gross sind und ich meine Partnerin davon überzeugt habe, dass diese Veloklamotten cool sind.
Frederik Jötten ist Wissenschaftsjournalist und schreibt regelmässig für «Das Magazin».
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