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Deutsche grüne Realpolitik
Warum eine Grüne in die Wirtschaft wechselte

Die Seiten gewechselt: Nach 17 Jahren im Bundestag wollte die Grüne Kerstin Andreae ihre Konzepte der Klimaneutralität in der Wirtschaft umsetzen.
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1900 Unternehmen gehören dem Verband der deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) an, zusammen setzen sie 90 Prozent des Stroms im Land ab. Von 2008 bis 2016 stand eine Christdemokratin an seiner Spitze, danach ein Freisinniger – und seit Ende 2019 erstmals eine Grüne.

Kerstin Andreae hält das im Gespräch für weniger überraschend, als es scheine: «Es ist die Folge einer Entwicklung.» Nach dem Atomausstieg 2011 habe sich die Energiebranche früher als andere an Erneuerbarkeit und Klimaneutralität ausrichten müssen und sei darin deswegen heute führend. Die meisten Unternehmen stritten längst nicht mehr um das «Ob» der Transformation, sondern nur noch um das «Wie». Da habe eine grüne Politikerin als Geschäftsführerin offenbar gut gepasst.

Dass mal eine Grüne oder ein Grüner einen mächtigen deutschen Wirtschaftsverband leiten würde, hätten vor zehn Jahren noch nicht viele für möglich gehalten. Die frühen Grünen sahen in der Wirtschaft im Grunde einen Gegner, den man nur mit Verboten zu moralisch-ökologischem Handeln zwingen konnte. Der Wirtschaft wiederum galten die grünen Fundis lange als Schreckgespenst, von denen nur Zumutungen zu erwarten waren.

Kurs auf die Mitte der Gesellschaft: Annalena Baerbock und Robert Habeck führen die Grünen seit Anfang 2018. Die 40-jährige Baerbock ist die erste Kanzlerkandidatin der Partei.

Diese Karikatur hat mit der grünen Realität schon länger nichts mehr zu tun, erst recht nicht, seit Anfang 2018 Annalena Baerbock und Robert Habeck die Partei übernahmen. Je einflussreicher und bedeutsamer die Partei und der Klimaschutz als Thema wurden, umso mehr wuchs wiederum das Interesse der Wirtschaft an den Grünen.

Andreae ist nicht die Einzige, die in den letzten Jahren die Seite gewechselt hat. Ein Grüner leitet derzeit das Hauptstadtbüro des mächtigen Verbands der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer, ein anderer ist Cheflobbyist des Chemieriesen Bayer, Andreaes Ehemann Volker Ratzmann, einst Fraktionschef der Berliner Grünen, bei der Deutschen Post. Selbst beim umstrittenen Fleischfabrikanten Clemens Tönnies wirkt mittlerweile ein Grüner mit.

Die 52-jährige Andreae hat die Entwicklung mitgeprägt. 17 Jahre sass sie für die Grünen im Bundestag, war als stellvertretende Fraktionschefin für Wirtschaftspolitik zuständig. «Mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben», diesen Satz des früheren Parteichefs Fritz Kuhn konnte die Reala Andreae stets unterschreiben. Treiber einer wirtschaftsfreundlicheren Politik waren auch der grüne Wirtschaftsminister Tarek al-Wazir in Hessen oder Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Andreae selbst stammt von dort, aus dem Schwarzwald.

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Trotz dieser Entwicklung stellen manche noch immer infrage, ob die Grünen überhaupt marktwirtschaftlich denken. Ein Lobbyverein, der von der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird, porträtierte die Kanzlerkandidatin Baerbock kürzlich in ganzseitigen Zeitungsinseraten als weiblichen Moses, der die angeblichen «10 Verbote der Grünen» verkündete: «Du darfst nicht fliegen» und so fort.

«Die Grünen denken marktwirtschaftlicher, als viele glauben», erwidert Andreae. Aber so, wie die Politik in der Vergangenheit dem freien Wirtschaften soziale Leitplanken gesetzt habe, setze sie nun eben auch ökologische. Wo genau diese verliefen, darüber könne man gern streiten.

In die Mitte der Gesellschaft

Baerbock und Habeck haben den Grünen bewusst das Ziel gesetzt, in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Dass dazu auch die Mitte der Wirtschaft gehört, verstand sich von selbst. Andreae gründete deswegen den Wirtschaftsbeirat der Partei, in dem 60 Menschen um mehr Verständnis zwischen Unternehmern und Politik ringen, unter ihnen Grössen wie der Chef des Chemiemultis BASF.

Nach 16 Jahren in der Opposition komme jetzt «die Zeit, zu machen», betont Habeck immer wieder. Für Andreae kam der Moment mit dem Jobangebot des BDEW. «Da musste ich nicht überlegen.» Die Grünenspitze habe sich darüber so gefreut wie sie selbst. Einfluss nehme man am Ende nur, wenn man eigene Konzepte auch in der Realität erprobe und zum Leben erwecke.

Die Energie steht im Zentrum der Wende

Die Energiewirtschaft wiederum stehe im Zentrum des gesamten sozialökologischen Transformationsprozesses. «Die Energiebranche muss den Wandel hinbekommen, damit die anderen es auch schaffen: Industrie, Verkehr, Gebäude. Was gäbe es Grossartigeres für mich, als an dieser Schnittstelle zu arbeiten?»

Man dürfe jetzt nicht in ängstlicher Verteidigungshaltung verharren oder an veralteten Strukturen festhalten, sondern müsse zum Umsetzer und Ermöglicher für andere Branchen werden. Saubere, sichere, zukunftsfähige Energie wolle schliesslich jeder. Natürlich gebe es in der Bevölkerung Ängste. «Umso mehr ist es nötig, ein positives Zukunftsbild zu zeigen.» Viele Unternehmen seien bei diesem Wandel bereits deutlich weiter als die Politik.

Grosse Erwartungen an die neue Regierung

Von der nächsten Regierung, die sich nach der Bundestagswahl Ende September bilden wird, erwartet Andreae viel – völlig unabhängig davon, ob die Grünen beteiligt sein werden oder nicht. Erstens müsse die neue Regierung die positive Stimmung in grossen Teilen der Wirtschaft aufnehmen und den Instrumentenkasten bereitstellen, mit dem die Transformation zur Klimaneutralität bewältigt werden könne. Zweitens müsse sie endlich überflüssige Bürokratie abbauen.

«Drittens würde ich mir ein Leuchten in den Augen wünschen.» Die Verwandlung der sozialen Marktwirtschaft in eine sozialökologische werde nur mit Begeisterung gelingen. «Nur Begeisterung schafft neue Jobs und neue Werte.» Am Engagement von Kerstin Andreae wird es voraussichtlich nicht fehlen.