Wahlen in Baden-WürttembergEinmal macht es Winfried Kretschmann noch – aber dann?
Im deutschen Südwesten ist der Grüne so beliebt, dass selbst CDU-Wähler ihn als Ministerpräsidenten wollen. Dabei wirkt seine Partei schon länger etwas müde.
Die Trümmer des Atomkraftwerks von Fukushima glühten noch, als Winfried Kretschmann 2011 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, als erster Grüner in Deutschland. Es war ein politisches Wunder. Fünf Jahre später war seine Wiederwahl immer noch ein Triumph. Seine dritte Wahl, die in Baden-Württemberg am Sonntag bevorsteht, wirkt nun eher wie eine Bestätigung. So fühlt sich wohl eine Ära an.
Der bald 73-jährige Kretschmann gilt schon lange als der beliebteste Landesregierungschef in ganz Deutschland. Seine Grünen liegen in den Umfragen mit 35 Prozent fast zehn Punkte vor den Christdemokraten. Selbst 60 Prozent der CDU-Wähler wollen, dass er weiter im Amt bleibt – ein irrer Wert. «Kretsch me if you can», spottete die linke «Tageszeitung». Nach der Wahl kann sich der Sieger wohl sogar aussuchen, ob er noch einmal mit der CDU oder lieber mit SPD und FDP regieren möchte.
Kretschmann ist ein für deutsche Verhältnisse höchst ungewöhnlicher Grüner.
Die Menschen in seiner Heimat schätzen Kretschmann – als Menschen und für sein Lebenswerk. Aus der «Anti-Parteien-Partei» von einst hat der frühere Biologielehrer in jahrzehntelanger Arbeit eine alternative Volkspartei der Mitte geformt. Eine bessere, modernere CDU. Nach 60 Jahren christdemokratischer Vorherrschaft im «Ländle» war es eine politische Zeitenwende.
Der knorrige Mann, der sie herbeiführte, gilt vielen schon lange als eine Art Kultfigur. Kretschmann ist ein für deutsche Verhältnisse höchst ungewöhnlicher Grüner, manchmal wirkt er fast wie ein Pfarrer unter Atheisten: katholisch, heimatverbunden, wertkonservativ, wirtschaftsfreundlich – und höchst umweltbewusst.
Seine Anhänger verehren den Politiker, der gern die Philosophin Hannah Arendt zitiert, als weisen Wanderer von der Schwäbischen Alb. Als einen, der die örtliche Blaskapelle liebt, im Kirchenchor singt, im Schützenverein schiesst. Kretschmann sei wie sie selbst, sagen sie: bodenständig, eher bedächtig, ein Schaffer.
In der Politik kümmert er sich weniger um Details als um die «langen Linien». Er sei zudem, wie er selbst einmal sagte, ein eher «langsamer Politiker». In der Corona-Krise suchte er den Schulterschluss mit den Vorsichtigen: mit Kanzlerin Angela Merkel, die er als «sehr streng» lobt, und dem bayerischen Amtskollegen Markus Söder.
Den mächtigen Autobauern um Mercedes und Porsche, die viel zum Wohlstand der 11 Millionen Menschen an Rhein und Neckar beitragen, hat Kretschmann die Angst vor den Grünen längst genommen. Er überzeugte sie, die ökologische Wende selbst in die Hand zu nehmen, um ihr eigenes Überleben zu sichern, und versprach im Gegenzug Unterstützung. Nach der ersten Pandemiewelle war er sich nicht zu schade, für Prämien von 3000 Euro zum Kauf von modernen Dieselautos und Benzinern zu werben. Das löste nicht nur bei der Grünen-Spitze in Berlin Unverständnis aus.
Kritik von der «Klimajugend»
Kretschmanns Pragmatismus stösst vor allem bei jungen Klimaschützern zunehmend auf Kritik. Was bringt Regieren überhaupt, fragen Fridays-for-Future-Aktivistinnen, wenn das 1,5-Grad-Ziel am Ende doch unerreichbar bleibt? Aus Enttäuschung tritt die baden-württembergische Klimajugend bei den Landtagswahlen am Sonntag fast überall mit eigenen Listen an. Nur Kretschmann selbst ist es wohl zu verdanken, dass dies den Grünen bislang kaum schadet. Er verstehe die Ungeduld der Jungen ja, sagt er. «Es ist auch wahr: Wir brauchen mehr Tempo.»
Zur Kritik aus dem eigenen Lager kommen unübersehbare Ermüdungserscheinungen. Aus Überheblichkeit verloren die Südwest-Grünen zuletzt etwa die Macht in Freiburg und Stuttgart an einen Parteilosen beziehungsweise an die CDU. «Zu satt und selbstzufrieden» seien sie geworden, kritisierte Rezzo Schlauch, wie Kretschmann einer der «Urgrünen» aus der Gründungszeit vor 40 Jahren.
Keine Nachfolger in Sicht
Dem Ministerpräsidenten selbst ist in den letzten Jahren praktisch seine ganze Mannschaft abhandengekommen: erst sein unschätzbarer Staatskanzleichef Peter Murawski, dann innert Wochen zwei wichtige Minister und ein politischer Vertrauter in Berlin. Die 57-jährige Finanzministerin Edith Sitzmann führte als Grund für den Rückzug zum Ende der Legislatur ebenso ihr Alter an wie der 62-jährige Umweltminister Franz Untersteller.
Nachfolger sind weit und breit keine in Sicht – erst recht nicht für den schon 72-jährigen Chef. Kretschmann wurde von seiner Partei vor zwei Jahren richtiggehend angefleht, für eine dritte Amtszeit zu kandidieren. Keinem anderen trauten sie einen Sieg zu. Bundesweit bekannte Grüne wie Cem Özdemir, der «anatolische Schwabe», wollten lieber in Berlin bleiben.
Frau an Krebs erkrankt
Kretschmann, der schon damals öfter müde und wenig begeistert wirkte, zögerte lange mit dem Entscheid. Nicht zuletzt seine Frau Gerlinde, mit der er seit 1975 verheiratet ist, habe ihm aber zugeredet, «es noch einmal zu machen», erzählt man sich in Stuttgart.
Vor vier Wochen gab Kretschmann dann bekannt, dass seine Frau an Brustkrebs erkrankt sei. Er schränke seinen Wahlkampf ein, sagte er, um sich um sie zu kümmern, «so gut es geht». Bei seinen Landsleuten, so vermuten Beobachter, verstärkte die Nachricht die Sympathien für den «Landesgrossvater» nur noch.
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