Mamablog: Interview zu Borderline«Ich war das Kind einer psychisch kranken Mutter»
Die mittlerweile erwachsene Martina B. erzählt von ihrer damals unsichtbaren Überforderung und inwiefern diese Kindheit ihr Leben als Erwachsene und Mutter prägte.
In der Schweiz leben gemäss dem Kinderpsychiater Kurt Albermann bis zu 300’000 Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil psychisch krank ist. Martina B. (Name der Redaktion bekannt), einst selbst eine Betroffene und heute dreifache Mutter, erzählt, wie es war, unter solchen Bedingungen gross zu werden und inwiefern das ihr Leben prägte.
Martina, es ist Ihnen ein Anliegen, Ihre Geschichte zu erzählen. Warum?
Um das oft unerkannte Universum von Kindern psychisch kranker Eltern und ihrer Überforderung sichtbar zu machen. Gesehen zu werden kann matchentscheidend für solche Kinder sein. Nur schon eine zugewandte Person im Aussen fördert ihre Resilienz. Ein Grund mehr, sich allgemein für Kinder und nicht nur für die eigenen zu interessieren.
Wie war denn Ihre Mutter?
Sie war oft voller Fantasie und Kreativität. Das hat mich ein Stück weit auch gerettet. Doch die gute Stimmung konnte jeden Moment kippen, ich wusste aber nie wann. Meine Mutter konnte völlig zusammenbrechen, weil ich ein Glas umstiess, manchmal aber auch ohne ersichtlichen Grund. Dann beschämte und erniedrigte sie mich, bis hin zu Suizid-Drohungen.
Unfassbar. Glaubten Sie, für diese Ausbrüche verantwortlich zu sein?
Natürlich. Kinder beziehen ja alles auf sich, was sie nicht einordnen können. Einerseits, weil sie noch so egozentriert sind. Anderseits, weil es viel weniger schmerzvoll ist, Schuld auf sich zu laden, als die Person, die man so abhängig liebt, infrage zu stellen. Falsche Verantwortung zu tragen, kann ein Werkzeug gegen die Ohnmacht sein, hat aber oft lebenslängliche Folgen.
Was war mit Ihrem Vater?
Mein Vater hat sich in seine Erfolge im Aussen geflüchtet. Er hat es nicht geschafft, sich seiner kranken Frau zuzuwenden. Die Verantwortung für ihr Befinden lag auf meinen Schultern.
«Doch wenn die Türe zufiel, war da oft nur die blanke Hölle.»
War diese toxische Familiensituation von aussen nie sichtbar?
Nein. Wir waren eine sehr angesehene Familie. Mein Vater ein beliebter Lehrer im Dorf, meine Mutter immer für alle da. Unsere Familie schien mustergültig. Doch wenn die Türe zufiel, war da oft nur die blanke Hölle. Diese Diskrepanz war es, die mich immer mehr an meiner Wahrnehmung zweifeln liess. Bis heute ist es für mich schwierig, dieser zu trauen. Wahrscheinlich bin ich darum Fotografin geworden, um meine Sicht zu materialisieren.
Es gab also selten Momente, in denen Sie zu Hause einfach sich selber waren?
Kaum, selbst an guten Tagen nicht. Denn eigentlich waren die Ausbrüche nur das Topping meines ständigen Beobachtens und Scannens der Lage, um mich entsprechend zu verhalten und Schlimmeres zu verhindern. Ich musste «richtig» sein, ohne dass es ein Richtig gab. Es war dieses latente Klima der Unberechenbarkeit, das hauptsächlich verhinderte, einfach mich selbst zu werden. Das fragile System meiner Mutter brauchte mich als einen Teil von ihr. Sie forderte meine Kraft, doch wenn ich diese auslebte, war diese wiederum eine Bedrohung für sie.
Was war Ihr Ausweg?
In den Wald flüchten. Da fühlte ich mich sicher. Und ich schrieb ihr ständig Briefe, wie toll sie ist und wie gerne ich sie habe. Im Glauben, ich muss nur lieb genug sein, dann hört der Wahnsinn auf. Aber das tat er natürlich nicht. Denn meine Mutter war das, was man heute eine Borderline-Persönlichkeit nennen würde.
Ich nehme nicht an, dass Sie zu dieser Erkenntnis gelangt sind, weil Ihre Mutter eines Tages sagte: «Weisst du, es lag nicht an dir, ich war krank.»
(Lacht) Was für eine Vorstellung. Meine Mutter wäre bis zu ihrem Tod entsetzt gewesen, was für Lügen ich über sie erzähle. Erst in meiner langjährigen Therapie bekam das Erlebte ein Gesicht.
Gab es einen Auslöser für den Zustand Ihrer Mutter?
Sie hat in ihrem Leben hochtraumatische Dinge erlebt. Allerdings hatte sie nicht die Kapazität, sich diesen zu stellen und projizierte sie auf mich. Das ist auch der Grund, warum ich zur Verfechterin geworden bin, sich unseren Verletzungen zu stellen – so unbequem das manchmal auch ist. Denn tun wir es nicht, geben wir sie an die nächste Generation weiter.
«Ich wusste schlicht nicht, wie Liebe ohne Missbrauch geht.»
Was für Folgen hatte Ihre Kindheit auf Ihr Erwachsenenleben?
Nebst wiederkehrenden Depressionen und Erschöpfungszuständen war auffällig, dass ich ständig Beziehungen hatte, in denen ich jemanden retten wollte. Ich hatte grosse Probleme mit Nähe und Distanz und löste dieses Dilemma, indem ich mich lange nur auf Männer einliess, die sich nicht binden konnten oder mich ausbeuteten. Denn damit konnte ich umgehen, das war mir vertraut. Diese Art von Beziehung gaukelte mir zudem vor, ich selbst hätte kein Problem mit Bindung. Dass dem aber nicht so war, merkte ich erst, als ich mit meinem jetzigen Mann zusammenkam, der mich liebte, wie ich war. Und obwohl ich mir genau das so sehr gewünscht hatte, brachte es mich völlig ins Straucheln. Ich wusste schlicht nicht, wie Liebe ohne Missbrauch geht.
Inzwischen sind Sie schon zehn Jahre zusammen und haben drei kleine Kinder. Inwiefern prägt Ihr Erlebtes die Beziehung zu den Kindern?
Ihnen kommt sicher zugute, dass ich mich bereits vor ihrer Geburt sehr mit meiner Geschichte auseinandersetze. Hätte ich diese – manchmal echt schwere – Arbeit nicht geleistet, hätte ich womöglich alles eins zu eins an sie weitergeben. Bei der Erziehung ist mir wichtig, dass die Kinder ihre Gefühle ernstnehmen und sie wissen, dass wir als Eltern selber zu uns schauen und es nicht ihre Aufgabe ist. Dieser Weg ist allerdings immer auch ein Kraftakt, der viel Bewusstheit von mir abverlangt, da ich ja gegenteilige Muster in mir trage. Auch ist es nicht immer einfach, in einer solchen Dichte von Beziehungen zu leben, weil mein Seismograf noch immer zu schnell ausschlägt, obwohl alles gut ist. Gleichzeitig bedeutet das bewusste Gestalten von Beziehungen auch viel Heilung.
Auf diese Weise werden erlernte Muster nicht an die nächste Generation weitergegeben.
(Lacht) Na ja, sicher gebe ich trotzdem einige Muster weiter, schliesslich bin ich kein Übermensch und tappe noch oft genug in die Falle. Aber ich hoffe, nicht in dem Ausmass, wie ich es erlebte. Vielleicht bin ich ja eine Art Katalysator für kommende Generationen. Doch eigentlich sind wir das ja alle – egal was für eine Geschichte wir in uns tragen.
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