Leserumfrage: Konsequenzen aus der Pandemie«Meine Energie stecke ich jetzt in die Auswanderung»
Alkoholsucht überwinden, vegan essen, auswandern – die einen haben ihr Leben zum Positiven verändert, andere bleiben frustriert zurück: Welche Lehren ziehen unsere Leserinnen und Leser aus der Pandemie?

Fast alle Corona-Massnahmen sind ausgelaufen, die sogenannte Normalität ist dabei, zurückzukehren. Wir wollten von unseren Leserinnen und Lesern wissen: War diese zweijährige Krise für Sie auch eine Chance? Nehmen Sie etwas ins postpandemische Leben mit? Haben Sie für sich etwas daraus gelernt, etwas verändert?
Wir haben zahlreiche Zuschriften erhalten mit positiven und negativen Einsichten – vielen Dank fürs Mitmachen! Im Folgenden präsentieren wir eine Auswahl der Zuschriften, geordnet nach Argumentationen. Die Namen wurden anonymisiert.
Positive Lernanstösse
Einüben gesunder Lebensweisen
Gabriela (59), Stiftungsleiterin: «Die Pandemie hat mich mit jeder neuen Stufe von Einschränkungen achtsamer gemacht. Ich ernähre mich seit dem ersten Lockdown 2020 vegan. Während der Pandemie war es aufgrund des eingeschränkten Lebens viel einfacher, sich auf sein Befinden und elementare Bedürfnisse zu fokussieren. So habe ich 2021 auch aufgehört, Kaffee zu trinken, trinke stattdessen Grüntee und kaum noch Alkohol. Noch nie in meinem Leben habe ich mich in meiner Haut und meinem Körper so lebendig und wohl gefühlt!»
Martin (41), Angestellter: «Durch das Homeoffice erreichte meine siebenjährige Alkoholsucht ihren absoluten Höhepunkt. Die Isolation zu Hause gipfelte in einem mengenmässig unglaublichen Whiskeykonsum von vier Flaschen in zwei Tagen. Und nur deshalb, ohne anderen Ausweg vor Augen, entschied ich mich für eine Behandlung in einer Suchtklinik im April 2020. Ohne diese Situation hätte ich diesen für mich damals immensen Schritt nicht gewagt und wäre jetzt nicht seit bald zwei Jahren trockener Alkoholiker, 30 Kilo leichter, in einer liebevollen Beziehung und rundum glücklich. Insofern hat die Pandemie mein Leben komplett verändert, und ich fühle mich als neuer Mensch.»
Sabine (62), selbstständige Beraterin: «Ich bin jetzt oft draussen in der Natur, das tut mir gut, und engagiere mich aktiv in Naturschutzprojekten. Bin zudem in einer solidarischen Gemüsewirtschaft und koche neu ganz anders – nicht nach Rezept und Poschtiliste, sondern danach, was der Gemüseacker uns schenkt, und orientiere mich dann an saisonalen Rezepten. Eine wunderbare Vielfalt und Erweiterung.»
Anita (58), Physiotherapeutin: «Mir wurde bewusst, wie wichtig es ist, dass ich zu meiner Gesundheit Sorge trage. Viel Übergewicht zu haben, ist fast so ‹doof› wie der Verzicht auf eine Covid-Impfung. Ich bin dabei, abzunehmen. Ich habe durch die Pandemie Vertrauen in die Medizin gewonnen. So holte ich mir ärztliche Unterstützung zum Abnehmen.»
Entschleunigung entdeckt
Esther (33), Lehrerin: «Ich war während des Lockdown und während einiger Quarantänen um einiges ruhiger als sonst. Die Entschleunigung hat mehr getan für meine psychische Verfassung, als Antidepressiva und Angstlöser es tun. Dies führte zum Umdenken, was meine Arbeitsbelastung angeht, und generell, wie ich mein Leben neu strukturieren soll. Leider wurden wir sehr schnell in den Alltag zurückgeworfen.»
Felix (67), biomedizinische Forschung: «Die Ruhe und Gelassenheit, die wir im Lockdown erleben durften, war wunderschön. Täglich aus dem Homeoffice eine nette E-Mail mit Blumenfoto aus unserem Garten an alle meine Arbeitskolleginnen und -kollegen senden, Gartenarbeit an der frischen Luft statt Laborarbeit in abgedunkelten Räumen, gute Gespräche über den Gartenhag mit Quartierbewohnern, ausgiebige Spaziergänge im Wald. Diese Gelassenheit haben wir weiter zu leben versucht, als ich wieder im Labor arbeiten durfte – und ich habe damit auch viele andere ‹infizieren› können.»
Susanne: «Der Lockdown hat mir gezeigt, wie stressig es ist, immer nur zu rennen, zu arbeiten, im Hamsterrad zu drehen. Morgens entspannt aufzustehen, ohne schnell aufs Tram zur Arbeit zu hetzen, abends nicht noch ausgehen, einfach sein. Sich menschlichen Kontakten und sich selbst widmen; Natur geniessen, sich bewegen, Gelassenheit und Freude an den kleinen Dingen spüren. Das nehme ich mit und gebe es nicht mehr her.»
Lust am Abstand
Nadine (37), kaufmännische Angestellte: «Ein anständiger physischer Abstand zu Menschen wurde normal, Stichwort ‹persönliche Distanz›. Diese Begrüssungsküsserei und das Seltsam-angeschaut-Werden, wenn man das nicht will, haben automatisch aufgehört: darf gern so bleiben. Auch haben fast alle die Vorteile von Homeoffice verstanden, auch Micro-Manager. Hoffentlich bleibt etwas von dem bisschen Abstand – für diesen Wunsch muss man nicht Soziopath sein, sondern einfach gern ein bisschen Luft zum Atmen haben.»
Sozialkontakte neu bewerten
Sabina (62), selbstständige Beraterin: «Ich habe mich mit der Remote-Kommunikation auseinandergesetzt und gemerkt, dass Gespräche, Sitzungen, Weiterbildungen problemlos auch so gehen. Und ich habe neue Freunde und Freundinnen gefunden, alte Bekannte bei Spaziergängen näher kennen und schätzen gelernt. Auch sonst hat sich mein Bekannten- und Freundeskreis neu sortiert, was ja im Leben immer wieder mal gut ist.»
Damaris (69), dipl. Grafologin: «Prägendste Erkenntnis: Ich habe in Freundschaften und Verwandtschaft viel über meine Mitmenschen und deren Werte erfahren, gerade was die Impffrage anbelangt. Einschneidende Veränderungen haben sich ergeben, weil es Kontaktabbrüche gab.»
Beata (59), Supervisorin, Sozialarbeiterin: «Ich habe keine Kleider mehr gekauft, habe aufgehört zu rauchen, und mit Ausgehen war ohnehin nicht mehr viel los. Bei einigen Freundschaften musste ich auf Abstand gehen – das hat mich gelehrt, sachlich und freundlich nur noch an Anlässen teilzunehmen, an denen ich mich wohlfühle.»
Neue Fähigkeiten
Verena (53), Sprachlehrerin: «Täglich mindestens 30 Minuten Portugiesisch gelernt! Das Ziel: 2023 Karneval in Rio, sechs Wochen in Brasilien.»
Dankbarkeit
Christine (48), tätig in einer NPO/Administration: «Anfangs fühlte ich mich wie in einem schlechten Science-Fiction-Film, mit der beklemmenden Erkenntnis, dass wir alle die Hauptrolle spielen. Einschneidend war, als ich realisierte, dass wir über gewisse Dinge plötzlich nicht mehr frei entscheiden können. Nicht dass ich deswegen extrem gelitten hätte, die Massnahmen waren ja notwendig. Es zeigte mir jedoch einmal mehr auf, wie gut wir es sonst haben in unserem normalen Leben. Ganz zu schweigen davon, wie wir als Schweizer bzw. Europäerinnen auch jetzt während der Pandemie profitieren konnten, Stichwort genügend Impfstoffe.»
Frustrierende Einsichten
Abkehr von den Medien
Ralf: «Ich begann sehr rasch, zu Covid – und bald auch zu allen anderen ‹Aktualitäten› – nur noch die Titel zu lesen, keine ‹Tagesschau› mehr zu schauen, keine Radionachrichten mehr zu hören. Die tägliche Aufregung zog geschmeidig an mir vorbei. Trotzdem wusste ich jederzeit Bescheid, verhielt mich möglichst safe, war einer der Ersten beim Impfen und Boostern. Ich bleibe beim reduzierten, sehr selektiven Medienkonsum.»
Christoph: «Ich habe erfahren müssen, wie Medien fähig sind, die Menschen zu beeinflussen und falsche Zahlen zu verbreiten. In diesem Fall mit dem Ziel, Panik zu verbreiten.»
Paul (50), Ausbilder Vertrieb: «Ich halte die Medien mittlerweile für manipulativ und nicht investigativ und werde daher auch nie Abonnent werden.»
Enttäuschung über Staat und Mitmenschen
Reto (70), Rentner: «Nach 30 Jahren GA war die Erfahrung neu, auf das Auto angewiesen zu sein, da ich mich im ÖV durch all die ‹Näseler› bedroht fühlte. Ich schaffe mir gerade statt eines GA ein Auto an, ÖV ist für mich vorbei. Und was ich NIE für möglich gehalten hätte: Ich werde hierzulande als vorerkrankter 70-Jähriger nicht mehr geschützt, weder durch den Staat und schon gar nicht durch die Minderheit all dieser egoistischen Impfverweigerer und Massnahmenkritiker. Mein Vertrauen in dieses Land ist zerstört. Meine Energie geht nicht mehr in die gesellschaftspolitische Aufklärungsarbeit, was hier mit Senioren passiert ist; meine ganze Energie stecke ich jetzt in die Vorbereitung der Auswanderung.»
Matthias, IT-Experte: «Eine Erkenntnis ist: Der Amtsschimmel ist mächtig, träge, teils unfähig bis stur und nicht wirklich daran interessiert, seinen Auftrag zu erfüllen – weshalb Booster-Impfung, Kinderimpfung etc. verschlafen wurden. Zudem: Kinder zählen bei uns nichts. Und: Ich hätte nie gedacht, dass derart viele die wissenschaftlichen Grundlagen nicht nur nicht verstehen, sondern auch schlicht leugnen. Mag sein, dass ich noch Teil dieser Gesellschaft bin. Die Gesellschaft ist aber nicht mehr Teil von mir. Zumindest zu einem grossen Teil.»
Lina (41), Primarlehrerin: «Natürlich habe auch ich in der Pandemie mit meiner Tochter gebacken, gestrickt, neue Instrumente gelernt, im Garten gearbeitet. Als Lehrerin habe ich aber leider miterlebt, wie Schülerinnen aus bildungsfernen Schichten den Anschluss verloren und mehrheitlich (!) in der Online- und Gamesucht gelandet sind. Die Krise hat mir aber auch gezeigt, dass unser Land in kurzer Zeit Unglaubliches erreichen kann. Wenn die Regierung bei der Unterstützung der Familien, bei Bildung und Prävention ein ebenso grosses Engagement zeigen würde wie in der Pandemie, wären wir bald ein Land mit einer psychisch und körperlich gesunden, hervorragend gebildeten Jugend.»
Christian (66), Rentner, früher Journalist: «Im Lockdown gab es viel Solidarität. Danach kamen Ungeduld, Intoleranz, Egoismus immer stärker zum Vorschein. Auch der Platz, den Rechtsextreme, SVP und andere eingenommen haben, hat mich erschreckt. Erkennbar wurde zudem die Schwäche der Exekutiven. Bundesrat und Kantonsregierung waren viel zu zögerlich. Richtige Windfahnen mit wenig Rückhalt.»
Desillusionierende Radikalisierungen
Simone (58), Finanzen (CFO): «Ich habe die Illusion, dass Bildung vor Radikalisierung und Fanatismus schützt, definitiv begraben. Irrste Verschwörungstheorien, radikalste Haltungen können sich auch in durch staatliche Unterstützung teuer ausgebildeten Hirnen festkrallen.»
Robert (55), IT-Experte: «Als Techniker wurde mir noch einmal klar, wie wenig Zahlen und Fakten wirklich bewirken und welch grossen Anteil die Psychologie der Massen hat. Erschreckt hat mich, wie fragil der Zusammenhalt in der Gesellschaft ist, wie viel Angst und Wut vorhanden sind. Einerseits ist es gut, dass die Obrigkeitshörigkeit abgenommen hat, anderseits bin ich erschrocken über das Mass an Selbstüberschätzung und das Misstrauen gegenüber den Spitzen der Gesellschaft.»
René (71), Jurist: «Mich erschütterte das Gehabe der Impfgegner: Ich erschrak ob der Brutalität, der Gewalttätigkeit, des mangelnden Respekts gegenüber medizinischen und anderen Berufen. Je mehr man mit ihnen diskutiert, desto eher wiederholen sie sich, desto lauter werden sie, auch aggressiv. Das hat vor allem die Deutschschweiz gespalten wie schon lang nicht mehr. Ich befürchte, dass das die Werte in unserem Bundesstaat in den Grundfesten erschüttert hat.»
Nicolas, Rentner: «Das System Schweiz ist überhaupt nicht krisentauglich, die Menschen werden lediglich als Wirtschaftsfaktoren gesehen. Die ethische Verrohung der Gesellschaft ist erschreckend. Ich wende mich voller Ekel ab. Dass Rechtsextreme durch die Strassen marschieren, macht mir Angst; meine Eltern wurden einst von den Nazis verfolgt. Dass der Holocaust von Impfgegnern derart relativiert wird, erfüllt mich mit Wut.»
Angst vor Überregulierung
Peter, Yoga-Lehrer: «Ich nehme mit, dass die Freiheit immer erkämpft werden muss. Ich nehme mit, dass die Politik die Pandemie zum Politikum machte. Dass BAG-Experten sich mit Horrorszenarien ziemlich getäuscht haben. Dass sich viele in der Schweiz im Regularienwahnsinn sehr wohl fühlen und sich diese Post-Corona-Biedermeiers sich nun allem Anschein nach durchsetzen. Ich nehme mit, dass viele sehr ängstlich, aber auch richtig mies drauf sind und dass das erst der Anfang von sozialen Spannungen ist!»
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