Petras BuchzeichenFertig Feigling
Es ist viel einfacher, fiktiven Figuren Worte in den Mund zu legen. Doch nun wage ich den Sprung ins kalte Wasser.
Neulich hatte ich eine Lesung in einer Oberstufenklasse. Zuerst erzählte ich, wie ich es immer tue, warum mir Geschichten wichtig sind, wie ich zum Schreiben kam. Dann las ich einen Ausschnitt aus einem meiner Jugendbücher vor. Hauptfigur ist Chris, ein Koch in Ausbildung, der wegen seiner Schulden in eine gefährliche Situation gerät. Im Schulzimmer war es mucksmäuschenstill. Ich freute mich darüber, dass ein Buch die Jugendlichen packen konnte, und las sogar etwas länger als üblich. Danach war es Zeit für die Fragen aus der Runde.
Wie lange brauchen Sie für ein Buch? Was machen Sie, wenn Ihnen die Ideen ausgehen? Was sieht Ihr Arbeitstag aus? Fragen, die mir schon häufig gestellt wurden und über die ich nicht lange nachdenken musste. Bis ein Schüler mit gerunzelter Stirn die Hand hob und wissen wollte, warum ich immer von Chris rede.
Ich überlegte eine Weile, bevor ich beschrieb, wie ich die Namen meiner Figuren auswählte. Dass sie häufig bestimmte Bilder in mir wachriefen, ohne dass ich sagen konnte, weshalb genau. Oder dass ich darauf achtete, wegen der Verwechslungsgefahr nicht zwei mit demselben Anfangsbuchstaben zu verwenden. Der Schüler hörte aufmerksam zu, doch er schien mit meiner Antwort nicht zufrieden. Tatsächlich streckte er fünf Minuten später erneut auf.
«Auf dem Buchcover steht aber Petra Ivanov», wandte er ein.
Jetzt war ich es, die die Stirn runzelte. «Ja, das bin ich. Ich habe das Buch geschrieben.»
«Eben», meinte er.
In seiner Welt ist jeder selbst die Hauptfigur seiner Geschichte. Instagram und Co. lassen grüssen.
Langsam begriff ich, was ihm Kopfzerbrechen bereitete. Ich erklärte, dass ich ein Buch über einen Jugendlichen namens Chris geschrieben hatte. Worauf er wissen wollte, ob ich in Wirklichkeit Chris heisse. Egal, wie ich es formulierte, er schien mich nicht zu verstehen. Konnte mich vermutlich nicht verstehen, denn die Idee, über andere zu schreiben, war ihm offenbar fremd. In seiner Welt ist jeder selbst die Hauptfigur seiner Geschichte. Instagram und Co. lassen grüssen.
Meine erste Reaktion war Erstaunen. Ich bin mit Romanen aufgewachsen. Ich liebte es, mit Huckleberry Finn auf dem Mississippi zu treiben oder im Baumhaus der Schweizer Familie Robinson zu übernachten. Ich habe mit Heidi geweint und mich mit Mary Lennox um den geheimen Garten auf Misselthwaite gekümmert. Romanfiguren gehörten zu meinen besten Freundinnen. Sie haben mich geprägt und meine Sicht auf die Welt beeinflusst. Durch sie lernte ich, mich in andere hineinzuversetzen. Als ich selbst zu schreiben begann, war es für mich selbstverständlich, eine Geschichte aus der Sicht einer erfundenen Protagonistin zu verfassen. Dass es Jugendliche gibt, die diese Erfahrungen nicht machten, nicht einmal als Lesende, stimmte mich wehmütig.
Dann fielen mir meine ersten Gehversuche auf Instagram und Facebook ein. Wie ich schlicht nicht begriff, was ein Post bezweckte. Ich sollte kurz und bündig etwas aus meinem Alltag erzählen? Und erst noch mit einem Foto illustrieren? Wen interessiert es, dass ich gerade Kuchen esse oder wo ich meine Ferien verbringe? Noch heute brüte ich stundenlang über ein paar Zeilen. Finde sie peinlich. Langweilig. Und bin heilfroh, wenn ich wieder in eine fiktive Figur schlüpfen darf.
Seit dem letzten Aufsatz aus meiner Schulzeit lasse ich ausschliesslich erfundene Figuren für mich sprechen. Sicher, auf Insta und Co. sind viele Geschichten auch erfunden, und manche interessieren tatsächlich niemanden. Trotzdem haben mich die Fragen dieses Schülers zu einer Erkenntnis geführt: Ich bin ein Feigling. Wie einfach es doch ist, fiktiven Figuren Worte in den Mund zu legen, die ich heikel finde, oder sie politisch inkorrekte Ansichten vertreten zu lassen. Veröffentliche ich hingegen einen Post, auf dem zu sehen ist, wie ich im Café einer Kette sitze, um die bewusste Konsumentinnen eher einen Bogen machen (und wo ich so lange schreiben darf, wie ich will, ohne dass jemand reklamiert), nehme ich in Kauf, dass ich dafür kritisiert werde. Dasselbe gilt, wenn ich in einer Kolumne zugebe, dass Insta und Co. Menschen durchaus weiterbringen können.
Ich war nie die Hauptfigur meiner Geschichte. Nun wage ich den Sprung ins kalte Wasser. Ich freue mich darauf, an dieser Stelle regelmässig aus meinem Alltag als Schriftstellerin und Schrebergärtnerin, Zürcherin und Weltenbürgerin zu erzählen.
Krimiautorin Petra Ivanov gewährt in ihrer Kolumne persönliche Einblicke in ihr Leben als Schriftstellerin.
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