Human Brain ProjectZehn Jahre haben Forschende das Hirn untersucht – was sind die Erfolge?
Das weltweit grösste Hirnforschungsprojekt hat einiges vorangebracht, doch Schizophrenie und Alzheimer sind nicht besiegt. Der eigentliche Fortschritt ist ein anderer.

Um sich dem Problem zu nähern, könnte man sich die Hirnforscher als fortgeschrittene Aliens vorstellen, die soeben die Erde entdeckt haben. Was für ein hübscher blauer Planet! Liebe Forscherinnen und Forscher, ihr kriegt jetzt jede Menge Kohle, und dann erklärt uns – bitte schön – die Erde und was man mit ihr anstellen kann. Zehn Jahre habt ihr Zeit.
Schon bald würden die Aliens streiten. Einige würden dafür plädieren, möglichst schnell auf der Erde zu landen und Daten zu sammeln, etwa zu diesem überaus interessanten Sozialleben der Ameisen, der offenkundig erfolgreichsten Lebensform dieses Planeten. Andere Alien-Forscher würden erst mal auf das grosse Ganze blicken wollen: Klima und Gezeiten, Kontinentalverschiebung, geoökologische Kreisläufe, Migrationswellen. Und sollten wir nicht erst einmal die Satelliten fernerkunden lassen?
Hundert Milliarden Nervenzellen
Vor ähnlichen Fragen steht die Hirnforschung. Ohne das Bild zu strapazieren: Es zeigt doch typische Probleme beim Umgang mit hochkomplexen Systemen – und das menschliche Gehirn ist vermutlich das komplexeste System überhaupt. Acht Milliarden Menschen leben auf der Erde, und jedes Gehirn verfügt über knapp hundert Milliarden Nervenzellen, die alle untereinander vernetzt sind. Eine Theorie von allem kriegt man da so schnell nicht hin.
Auch in den Neurowissenschaften konkurrieren seit langem Bottom-up- und Top-down-Ansätze. Bottom-up bedeutet, zunächst die kleinsten Einheiten zu untersuchen, die Nervenzellen und ihre Verbindungen. Top-down dagegen heisst, bei kognitiven Funktionen anzusetzen. Beides ist nicht leicht unter einen Deckel zu bekommen. Die meisten Fachkollegen fanden es deshalb verwegen, als der Hirnforscher Henry Markram, damals an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne, um 2010 eine Revolution beantragte: Wissenschaftler wie er wollten Bottom-up das gesamte menschliche Gehirn mit seinen Milliarden Neuronen und Billionen Synapsen eins zu eins in einem Computermodell simulieren und nebenbei Therapien gegen Alzheimer bis Schizophrenie entwickeln.
«Mit dem Human Brain Project wurde ein Supertanker in Gang gesetzt, der aber beim Ablegen überhaupt noch nicht wusste, wo er hinsteuern soll.»
Tatsächlich gelang es dem charismatischen Markram, eines der wenigen sogenannten EU-Flaggschiff-Projekte zu ergattern: Von Herbst 2013 an stellte die Europäische Kommission für zehn Jahre insgesamt 600 Millionen Euro für das Human Brain Project (HBP) zur Verfügung. Dabei war eigentlich von Anfang an klar, was im Herbst 2023 offensichtlich ist: Markram ist mit seinen Visionen gescheitert. «Das war halt die Hoffnung auf den heiligen Gral der Hirnwissenschaft», sagt Andreas Draguhn, Neurophysiologe an der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg: «eine wissenschaftliche Allmachtsfantasie».

Bereits im Juli 2014 kritisierten 800 Wissenschaftler das Management des HBP und die intransparente Vergabe von Forschungsgeld. Ein besonderes Ärgernis war, dass erste Mittelkürzungen vor allem auf Kosten der Top-down-Perspektive gingen. Die Forscher sollten sich in erster Linie mit den Neuronen und Synapsen und deren digitaler Simulation beschäftigen. Der Blick von oben auf Denken, Wahrnehmung, die gesamte Kognition sollte hintenanstehen. Dazu kam: Forscherinnen und Forscher, die beim HBP aussen vor geblieben waren, befürchteten, dass sich die finanzielle Förderung in Europa auf dieses Grossprojekt konzentrieren würde, zulasten kleinerer Forschungsprojekte. «Mit dem HBP wurde ein Supertanker in Gang gesetzt, der aber beim Ablegen überhaupt noch nicht wusste, wo er hinsteuern soll», schimpft Draguhn. «Darüber nachzudenken und zugleich kleinere, kreative Forschungsprojekte zu fördern, wäre wichtig gewesen.»
«Wir sind immer noch mit Taschenlampen im Dunklen unterwegs, explorieren um einzelne Fragen herum.»
Ähnlich sieht das Andreas Herz, Professor für Computational Neuroscience an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Man habe sich damals von anderen Megaprojekten inspirieren lassen, vom grossen Large Hadron Collider (LHC), Teilchenbeschleuniger am Forschungszentrum Cern in Genf in der Physik etwa oder vom Human Genome Project in der Biologie. «Im Vergleich mit der Physik befindet sich die Neurowissenschaft jedoch noch weit vor dem Stand von 1920», resümiert Herz.
Das erkenne man bereits an der Art der Publikationen. «Neurowissenschaftler berichten meist über neue und unerwartete Phänomene, die sie entdeckt haben», sagt der Münchner Forscher. «Wir sind immer noch mit Taschenlampen im Dunklen unterwegs, explorieren um einzelne Fragen herum.» Die Physiker hingegen konnten sich beim Bau des LHC bereits im hellen Licht einer umfassenden einheitlichen Theorie sonnen. «Sie freuen sich über jede kleine Unstimmigkeit zwischen Theorie und Experiment, die sich noch finden lässt, weil sie das Schritt für Schritt weiterbringt.»
Übergreifende Theorie fehlt
In der Neurowissenschaft fehlte eine übergreifende Theorie, die wie die Theorie der fundamentalen Wechselwirkungen in der Physik grosse Teile der Beobachtungen erklären könnte. «Das Theoriedefizit ist extrem», sagt auch Draguhn. «Es besteht noch nicht einmal Einigkeit, was wir mit zentralen Begriffen meinen, mit Gedächtnis, Kognition, erst recht nicht mit Bewusstsein.» Stattdessen gebe es «jede Menge unklarer Computermetaphorik». «Insofern kam das Human Brain Project auf jeden Fall viel zu früh», sagt Andreas Herz.
Und doch hat das Grossforschungsprojekt substanzielle Fortschritte gemacht – vermutlich wegen der raschen Reaktion auf die frühe Kritik. Anfang 2016 wurde Katrin Amunts, Professorin an der Universität Düsseldorf und am Forschungszentrum Jülich, wissenschaftliche Direktorin des HBP. Sie legte den Tanker erst einmal vor Anker und beschäftigte sich mit den Grundlagen der Navigation. Die beteiligten Arbeitsgruppen bauten unter anderem den bislang grössten Hirnatlas auf, der über die sogenannte Ebrains-Plattform für alle interessierten Forscher zugänglich ist. «Das ermöglicht es nun, digitale Werkzeuge in komplexe und reproduzierbare Forschungsarbeiten einzubinden», sagt Amunts. «Das erleichtert die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachgebieten der Neurowissenschaften.»
«Das ist ein Gewinn und birgt grosses Potenzial», bestätigt auch Andreas Draguhn aus Heidelberg. Es gibt also nicht mehr nur den grossen Tanker, sondern zunehmend umfangreiches Datenmaterial, an dem sich die Flotte aller Hirnforscher bedienen kann. Das sei mehr als nur eine Rechtfertigung im Nachhinein, versichert Amunts: «Der Aufbau dieser kollaborativen Forschungsinfrastruktur war technisch und inhaltlich anspruchsvoll, und es brauchte das Format und die Laufzeit des Flagships, um dieses Ziel ernsthaft umzusetzen.»

Endlich sei es nun möglich, die stark anwachsenden und komplexen Datenmengen zusammenzusetzen, gemeinsam zu analysieren und für andere verfügbar zu machen. «So wie in der Astrophysik, wo nicht nur der Betreiber des stärksten Teleskops die komplexen Daten analysiert, sondern viele Forschungsgruppen Zugang haben», sagt Amunts. Das sei der eigentliche Fortschritt des HBP: «die Multi-Skalen-Natur des Gehirns und seine Multimodalität mit neuen digitalen Methoden besser im Zusammenhang zu erfassen». Das klingt technisch und spröde, ist aber wichtig. Der ursprüngliche Bottom-up-Vorwurf gegen das HBP sei nicht mehr angebracht. Vielmehr gehe es darum, die Eigenschaften der Hirnorganisation über viele Grössenskalen miteinander zu verknüpfen.
Was bleibt also nach zehn Jahren HBP? Niemand hat auch nur annähernd das menschliche Gehirn nachgebaut. Weder Schizophrenie noch Alzheimer sind besiegt. Doch man sollte das Projekt nicht nur an den übermässig ambitionierten Versprechen der Anfangszeit messen. Die neue Dateninfrastruktur ist fundamental, daneben sind bemerkenswerte medizinische Projekte entstanden. Es ist jetzt etwa besser möglich, den Bewusstseinszustand gehirnverletzter Menschen zu beurteilen. Es gab Fortschritte bei digitalen Implantaten für gelähmte und blinde Menschen. Neue Hirnmodelle verbessern die Präzision bei chirurgischen Eingriffen bei Epilepsie.
«Unter dem grossen Dach des HBP haben viele die Finanzierung guter und sinnvoller Projekte gefunden.»
Auch die Angst, kleinere Forschungsprojekte kämen zu kurz, hat sich wohl nicht bestätigt. Zumindest kann kein Befragter ein brandheisses kleines Projekt nennen, dessen Finanzierung wegen der 600 Millionen Euro für das HBP gescheitert ist. «Man muss ehrlich sein», sagt Andreas Draguhn, «unter dem grossen Dach des HBP haben viele die Finanzierung guter und sinnvoller Projekte gefunden.»
Zu diskutieren wäre nun der weitere Fahrplan der Neurowissenschaften. Immer noch fasziniert die Vision, dass sich die Gehirne auf der Erde eines Tages selbst verstehen könnten. «Man kann das auch Paradigma nennen, wenn man sich am Begriff Vision stört», sagt Amunts. Es sei aber wichtig, «auch ambitionierte Ziele in der Forschung zu diskutieren, sonst tritt man auf der Stelle».
An den vollständigen Nachbau denkt kaum noch jemand
An den vollständigen Nachbau des Gehirns denkt dabei aber kaum noch jemand. «Selbst wenn wir eine Art digitale Kopie des kompletten Gehirns erstellen könnten, was würde uns das bringen?», fragt Neurowissenschaftler Herz. «Wir würden sie nicht verstehen.» Es verhält sich so wie mit Landkarten aus Papier: Im Massstab eins zu eins sind sie unpraktisch. «Modelle müssen geschickt vereinfachen, damit sie benutzbar werden», sagt Herz und bezweifelt, dass wir das Gehirn jemals ganz begreifen können. Zu komplex seien die dynamischen Prozesse der weit mehr als hundert Milliarden Nerven- und Gliazellen, die vielfach miteinander kommunizieren, in kürzesten und extrem langen Prozessen. «Wie kommt es eigentlich, dass uns ein wenige Sekunden andauerndes Ereignis manchmal ein Leben lang im Gedächtnis erhalten bleibt?», fragt Herz.
Auch in Zukunft werden Theorien und Experimente Schlaglichter auf Fühlen und Denken werfen können. Eine grosse, kohärente Theorie des Gehirns werden sie eher nicht bilden. «Das Beste, was wir erreichen können, so vermute ich, ist ein Flickenteppich von Modellen auf vielen Raum- und Zeitskalen, ein farbenprächtiges Glasmosaik, durch das die neurobiologische Wahrheit hindurchschimmert», sagt Andreas Herz. «Mich stört das nicht. Das ist die Realität der Natur. Das ist das Leben.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.