Interview zur Lebensarbeitszeit«Wir schicken Leute in Rente, obwohl sie noch 10 Jahre arbeiten könnten – ein Witz!»
Der Nationalrat debattiert über die Einführung von Lebensarbeitszeit: Das heisst 44 Jahre Arbeit für alle. Ökonom Christoph Schaltegger erklärt die Vorteile.
Herr Schaltegger, wann dürften Sie in Rente gehen, wenn wir alle genau 44 Jahre arbeiten müssten?
(überlegt) Ich habe das noch nie durchgerechnet. Wahrscheinlich würde es bei mir nicht viel später als mit 65 Jahren. Ich habe schon während des Studiums ziemlich viel gearbeitet. Grundsätzlich hoffe ich aber sowieso, dass ich nach meinem 65. Geburtstag noch weiterarbeiten kann. Als Professor hat man es diesbezüglich auch etwas einfacher.
Der Nationalrat entscheidet am Mittwoch über ein Postulat zur Einführung der Lebensarbeitszeit: Statt fix mit 65 in Rente zu gehen, hätten wir gemäss diesem Modell alle eine bestimmte Anzahl Jahre zu arbeiten, ehe wir AHV beziehen dürften. Hoffen Sie auf ein Ja zum Postulat?
Ich finde das Modell interessant genug, um es vertieft zu prüfen. Ein Postulat bedeutet ja nicht, dass etwas gleich eingeführt wird. Der Bundesrat erhält dann den Auftrag, einen Bericht zu erstellen.
Sie haben sich als Forscher mit der Lebensarbeitszeit beschäftigt. Erklären Sie uns bitte die Vorzüge dieses Modells.
Die Welt hat sich stark gewandelt. Heute nehmen immer mehr Personen die Erwerbstätigkeit erst mit 30 Jahren auf. Aber für alle gilt grundsätzlich das Renteneintrittsalter 65. Dies wird vermutlich von einigen als ungerecht empfunden. Das Lebensarbeitszeitmodell würde also in einem gewissen Sinn zu einer Stärkung des Versicherungsprinzips führen.
Eine Akademikerin, die mit 30 ins Erwerbsleben einsteigt, findet es aber vielleicht ungerecht, wenn sie erst mit 74 in Rente kann – während ihr Schulkollege, der mit 20 als Maurer anfing, sich schon mit 64 pensionieren lässt.
Wenn die Akademikerin später ins Erwerbsleben eingestiegen ist, arbeitet sie insgesamt nicht länger.
Aber sie bezieht dann weniger lang Rente.
Nicht unbedingt. Statistisch gesehen leben Menschen mit höherer Ausbildung und höherem Einkommen länger als Tiefqualifizierte. Teilweise sind sie vielleicht gesundheitsbewusster, aber sie haben auch die körperlich weniger verschleissenden Jobs. Tatsache ist, dass wir heute Leute mit langer Ausbildungszeit in Rente schicken, obwohl sie noch 10, vielleicht sogar 20 Jahre arbeiten könnten. Das ist doch ein Witz!
«Die Lebensarbeitszeit an sich löst das Kostenproblem der AHV nicht.»
Kennen Sie persönlich viele Leute, die gerne bis ins hohe Alter arbeiten würden?
In meinem Bekanntenkreis gibt es tatsächlich viele, die mit 65 nicht einfach aufhören wollen. Meist arrangiert man sich mit der Situation, engagiert sich nach der Pensionierung ehrenamtlich oder wird in einer Gemeindebehörde tätig. Erwiesen ist, dass es oft nicht guttut, wenn man von hundert auf null reduzieren muss. Man wird aus seinem Umfeld gerissen, verliert seine Tagesstruktur, erfährt keine Wertschätzung mehr.
Wäre mit der Lebensarbeitszeit die AHV nachhaltig saniert?
Die Lebensarbeitszeit an sich löst das Kostenproblem der AHV nicht. Entscheidend ist, wie sie ausgestaltet wird. Eine Bevölkerung mit steigender Lebenserwartung und geringer Kinderzahl kommt nicht darum herum, insgesamt länger zu arbeiten – egal, welches Modell man verfolgt.
Ihre Modelle beruhen auf einer Lebensarbeitszeit von 44 Jahren. Wie kommen Sie genau auf diese Länge?
Aus dem Ziel folgt die ideale Länge. 44 Jahre, das entspricht dem Status quo mit Rentenalter 65. In Zukunft müsste sie auf etwa 47 Jahre bis 2050 ansteigen, um Erhöhungen der Mehrwertsteuer zu vermeiden. Die Länge sollte die demografische Wirklichkeit abbilden.
Wenn jemand nach der Familiengründung mehrere Jahre aus der Erwerbsarbeit ausscheidet: Sollte das trotzdem an die Lebensarbeitszeit angerechnet werden?
Ja, bereits heute gibt es in der AHV Erziehungsgutschriften. Hier müsste nichts verändert werden.
«Grundsätzlich ist die Idee einer Lebensarbeitszeit, dass jene mit körperlich anstrengenden Jobs im Vergleich zu heute früher in Rente gehen können – und nicht der Gymnasiast oder Student mit einem kleinen Nebenjob.»
Und wenn man unfreiwillig arbeitslos wird?
Bereits heute bezahlen Arbeitslose via Arbeitslosenentschädigung AHV-Beiträge.
Wie ist es mit freiwilligen Time-outs?
Bei freiwilligen Unterbrüchen, zum Beispiel einer längeren Weltreise, gelten die Personen als Nichterwerbstätige und müssen entsprechend – wie heute – das Minimum einzahlen, damit das Jahr als Beitragsjahr angerechnet wird.
Sie haben eingangs erwähnt, dass Sie schon während des Studiums arbeiteten. Wenn Studienjobs mit angerechnet werden, müsste wohl kaum ein Akademiker länger arbeiten als heute.
Lebensarbeitszeitmodelle haben einige Umsetzungsfragen, die noch geklärt werden müssen. Dieser Fall ist vermutlich die grösste Schwierigkeit. Denn grundsätzlich ist die Idee einer Lebensarbeitszeit, dass jene mit körperlich anstrengenden Jobs im Vergleich zu heute früher in Rente gehen können – und nicht der Gymnasiast oder Student mit einem kleinen Nebenjob.
«Ich bin kein Hellseher, aber ich kann mir vorstellen, dass der Fortschritt der KI neue Jobs schafft.»
Und wie löst man dieses Problem?
Denkbar wäre es, die Hürde für ein Beitragsjahr zu erhöhen. Sprich, dass zum Beispiel erst ab einem Jahreseinkommen von 30’000 Franken ein Beitragsjahr erreicht wird. Konkret könnte man diese Hürde nur bei frühen Beitragsjahren anwenden, vor dem 21. Altersjahr. So könnten Personen profitieren, die mit 18 oder 19 die Lehre abschliessen. Studenten mit einem entsprechenden Jahreseinkommen vor dem 21. Altersjahr gibt es vermutlich eher wenig.
Trifft man damit nicht auch Menschen aus Tieflohnbranchen?
Je höher man das Mindesteinkommen definiert, desto eher besteht diese Gefahr. Vielleicht besteht die Lösung darin, das Erwerbseinkommen über die gesamte Erwerbszeit anzuschauen. Nur wer ein Erwerbseinkommen hat, das zu tief ist, um eine volle AHV-Rente zu erhalten, darf nach 44 Beitragsjahren schon vor dem 65. Geburtstag in Rente gehen.
Müsste die Diskussion nicht in eine völlig andere Richtung gehen? Die künstliche Intelligenz (KI) macht rasante Fortschritte, niemand weiss, wie lange wir noch Arbeit haben. Und da schlagen Sie vor, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung länger arbeiten muss?
Im Moment geht der Trend in eine andere Richtung: Wir haben Fachkräftemangel. Ich bin kein Hellseher, aber ich kann mir vorstellen, dass der Fortschritt der KI neue Jobs schafft. Dass uns die Maschinen die Arbeit wegnehmen: Das ist eine menschliche Urangst, die sich bis jetzt jedenfalls nicht bewahrheitet hat.
Fehler gefunden?Jetzt melden.