Streit in deutscher Regierung Habeck plant Atomkraftwerke nur als «Notreserve» ein
Der grüne Wirtschaftsminister will am Atomausstieg spätestens im April 2023 festhalten. FDP-Chef Lindner verlangt einen Weiterbetrieb bis mindestens 2024.
Ein Stresstest des deutschen Stromsystems löst einen erneuten Stresstest der deutschen Regierung aus. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck stellte am Montagabend die Erkenntnisse von Simulationen vor, die die Stabilität der deutschen Stromnetze unter extremen Annahmen prüften. Ergebnis: Eine akute Stromkrise sei im Winter sehr unwahrscheinlich, so Habeck, könne aber dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden.
Um die Stabilität in jedem Fall zu gewährleisten, plane er verschiedene Gegenmassnahmen – und beantrage der Koalition auch, zwei der drei noch in Betrieb verbliebenen deutschen Atomkraftwerke bis Mitte April 2023 als «Notfallreserve» vorzuhalten. Die beiden AKW, die Habeck im Auge hat, sind der in Bayern liegende Reaktor Isar 2 sowie Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg. Bisher war vorgesehen, dass die beiden Anlagen zusammen mit dem niedersächsischen Reaktor Emsland Ende des Jahres abgeschaltet werden, um Deutschlands Atomausstieg abzuschliessen.
Isar 2 und Neckarwestheim 2 könnten bis April 2023 im Notfall wieder hochgefahren werden, um die Netzstabilität auch im stärker belasteten deutschen Süden zu gewährleisten, erklärte Habeck. Dies würde im Rahmen eines sogenannten Streckbetriebs geschehen, also ohne den Einsatz neuer Brennstäbe, einfach, indem die alten noch bis zu Ende abgebrannt würden. Auch dafür müsste allerdings das geltende Atomgesetz geändert werden.
Die Kernenergie, so Habeck, bleibe eine «Hochrisikotechnologie» mit ungelöstem Endlagerproblem, deswegen wolle er auch in der Not möglichst sparsam auf sie zurückgreifen. Die Frage, ob er den Atomausstieg spätestens Mitte April 2023 garantieren könne, beantwortete Habeck mit einem Wort: «Ja.» Es werde in dieser Legislatur keine Verlängerung der Laufzeiten über die Vorhaltung der AKW als Notreserve hinaus geben.
Mit dieser Festlegung provoziert der grüne Wirtschaftsminister nicht nur die christdemokratische Opposition, sondern auch den Regierungspartner FDP. CDU-Chef Friedrich Merz und CSU-Chef Markus Söder verlangen schon seit Wochen einen Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Kernkraftwerke bis mindestens 2024. Dazu wäre es nötig, umgehend neue Brennelemente zu bestellen. Am Montag pflichtete Habecks Regierungskollege Christian Lindner, Finanzminister und FDP-Chef, Merz und Söder ausdrücklich bei.
Stimmungsumschwung bei Atomkraft
Der «Süddeutschen Zeitung» sagte Lindner: «In diesen Zeiten sollten alle Möglichkeiten genutzt werden, den Strompreis für die Menschen und die Betriebe zu reduzieren. Das ist aus meiner Sicht ein wirtschaftspolitischer Stresstest, der neben dem energiepolitischen Stresstest auch eine Rolle spielen muss.»
Lindner wies angesichts der exorbitanten Preise für Strom und Gas auf einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung hin, was die übergangsweise Nutzung der Kernenergie angehe. Tatsächlich befürworteten zuletzt in einer Umfrage des «Spiegels» drei von vier Deutschen einen Weiterbetrieb der letzten AKW bis 2023, zwei von drei auch bis 2024. Zwei von fünf fordern sogar den Bau neuer Reaktoren.
Habeck widersprach Lindners Forderung mit dem Argument, dass die hohen Strompreise auch mit anderen Mitteln gedämpft werden könnten. Den Atomausstieg halte er nach wie vor für vorausschauend und klug – gerade auch wenn er an die Probleme Frankreichs denke, wo wegen der Dürre und Betriebsschäden derzeit mehr als die Hälfte der Kernkraftwerke stillstehen.
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