Unterricht und ProbezeitWenn nur Auswendiglernen zählt, verdient das Gymnasium seinen Namen nicht
Für Jugendliche am Gymi geht es an Prüfungen primär um die Wiedergabe von Wissensbeständen. Es ist Zeit für eine Veränderung.

Der Artikel von René Hauri über Himmel und Hölle der Probezeit am Gymnasium hat heftige Reaktionen ausgelöst. Unabhängig davon, wie man über Quoten, Selektion, Langzeitgymnasien oder die Qualifikation der Lehrpersonen denkt, lässt sich eine oftmals zermürbende Belastung nicht wegkommentieren: Jugendliche am Gymnasium müssen sehr, sehr viel auswendig lernen. Das Lernen zielt weniger auf Verstehen, Analysieren, Interpretieren, Anwenden oder Erforschen, sondern primär auf Reproduktion ab.
Zweifellos ist die Fähigkeit, bestimmte Wissensbestände auswendig zu können, auch in Zeiten von künstlicher Intelligenz weiterhin relevant. Weiterführende Kompetenzen setzen voraus, dass die Lernenden relevante Fakten, Begriffe und Methoden kennen und nennen können. Wenn es jedoch bei der blossen Wiedergabe bleibt, die schiere Menge das Leben der Jugendlichen vereinnahmt und Präzision sowie Vollständigkeit der Reproduktion zu zentralen Selektionskriterien werden, verdient das Gymnasium seinen Namen nicht.
Selbstverständlich trifft die Kritik nicht für alle Fächer und alle Lehrpersonen zu. Neue Lehr- und Lernformen haben sich längst auch am Gymnasium etabliert. Dennoch hat sich an der Belastung des Auswendiglernens nur bedingt etwas geändert – und dies aus zwei Gründen.
Risikoloses Abfragen von Wissen
Erstens geht es trotz eines offeneren, kompetenzorientierten Unterrichts bei der Prüfung vornehmlich darum, wer am meisten auswendig gelernt hat. Dieser Umstand hängt unter anderem damit zusammen, dass Lehrpersonen bei der Bewertung auf Nummer sicher gehen wollen und daher Aufgaben bevorzugen, die eine klare Zuordnung von Punkten für richtige oder falsche Antworten erlauben. Besonders während der Probezeit, in der sich wie im Kanton Zürich die Notengebung stark am Ziel der Selektion orientiert, ist diese Praxis ausgeprägt.
Zweitens wurden offenere Lehr- und Lernformen in spezielle Zeitgefässe wie Sondertage und Projektwochen ausgelagert, die meist nicht benotet werden. Trotz aller Reformen bleibt am Ende des Tages für die Jugendlichen die Belastung durch das Auswendiglernen enorm.
Eine Chance zur Veränderung bieten die neuen nationalen Rahmenlehrpläne, die im Sommer dieses Jahres verabschiedet wurden. Sie sind konsequent an Kompetenzen orientiert, die über die Reproduktion von Wissen hinausgehen. Auf dieser Basis müssen die Kantone und Schulen in den nächsten Jahren ihre Lehrpläne überarbeiten. Wenn sie die Herausforderung annehmen, so könnte sich das Lernen der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten verändern: Reproduktion von Wissen wäre dann kein Selbstzweck mehr, sondern würde als Grundlage dienen, Wissen anzuwenden und zu vertiefen.
Realistischerweise werden einige schön formulierte Kompetenzen in Lehrplänen nicht ausreichen. Vielmehr bräuchte es verbindliche Vorgaben für die Leistungsbewertung: In den neuen Lehrplänen müssten die Aufgaben und die Produkte umschrieben sein, die benotet werden. Ohne den Mut von Bildungsverwaltungen und Schulleitungen, diese Vorgaben zu machen, wird sich für die Jugendlichen am Gymnasium kaum etwas ändern.
Philippe Weber ist Dozent für Fachdidaktik Geschichte an der Universität Zürich und Geschichtslehrer an der Kantonsschule Zug.
Fehler gefunden?Jetzt melden.