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Monatelang in russischer Haft
Geschlagen, gefoltert und gezwungen, die russische Hymne zu singen

Nach ihrer Festnahme wurde sie in ein Gefängnis im russisch besetzten Donezk gebracht: Die angesehene ukrainische Sanitäterin Yuliia Paiewska.
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Die wohl bekannteste ukrainische Sanitäterin Yuliia Paiewska erzählte in einem Interview mit der «New York Times», wie sie in russischer Gefangenschaft gefoltert und geschlagen worden sei.

In der Ukraine ist die 53-Jährige eine Ikone. Sie leistete 2013 Freiwilligenhilfe bei den Euromaidan-Protesten, gründete ihre eigene Sanitätergruppe «Tairas Engel» und half bei der Evakuation von Zivilisten aus der hart umkämpften Stadt Mariupol. Beim Versuch, eine Gruppe aus der zerstörten Stadt zu bringen, wurden Paiewska und ihr Fahrer im März von russischen Soldaten verhaftet. Sie sass drei Monate lang zuerst in Einzelhaft, danach zusammen mit 21 anderen Frauen in einer rund 20 Quadratmeter grossen Zelle, erzählte sie.

Am 17. Juni verkündete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ihre Freilassung. Seither erholt sich Paiewska in einem Spital in Kiew. 

«Sie haben zu viele amerikanische Filme gesehen»

Nach ihrer Festnahme wurde sie in ein Gefängnis im russisch besetzten Donezk gebracht. Dass man sie dort nicht zimperlich behandeln würde, merkte sie schon früh. Nach ihrer Ankunft im Gefängnis habe sie darum gebeten, ein Telefonat führen zu dürfen, sagte Paiewska der «New York Times». «Sie haben zu viele amerikanische Filme gesehen», wurde ihr gesagt. «Es wird keine Anrufe geben.» Drei Monate lang hat sie weder die Stimme ihres Mannes noch diejenige ihrer Tochter gehört. 

Man habe sie in eine eiskalte Zelle geworfen und wiederholt stundenlang verhört. In den ersten fünf Tagen habe sie nur ein halbes Glas Wasser pro Tag und nichts zu essen bekommen, erzählte die Ukrainerin aus ihrem Spitalbett. 

Die Russen hätten versucht, ein Geständnis zu erpressen. «Sie wollten, dass ich zugebe, dass ich ein Nazi war, dass ich einige schlimme Dinge getan und jemanden getötet habe.» Doch Paiewska schwieg, was dazu geführt habe, dass die Russen und prorussischen Separatisten sie in einen Kerker ohne Matratze geworfen hätten.

Für ein Propagandavideo, das zehn Tage nach ihrer Verhaftung veröffentlicht wurde, ist sie vor die Kamera gezerrt worden. Auf den Aufnahmen wird sie mit Hitler verglichen und beschuldigt, Kinder als Schutzschilde benutzt zu haben.

Vor ihrer Verhaftung hat sie mit einer am Helm befestigen Kamera aufgezeichnet, was die Sanitäterin wirklich im Krieg erlebte.

Aufnahmen aus der Hölle von Mariupol 

Yuliia Paiewska bekam 2021 eine Bodycam, um interessante Figuren in der Ukraine zu filmen. Es sollte eine Netflix-Dokumentation werden, produziert vom britischen Prinzen Harry. Doch der russische Angriff änderte alles. Mit einer Kamera, so gross wie ein Fünfliber, dokumentierte sie die Zerstörung von Mariupol. Die erschütternden Aufnahmen zeigen, wie sie und ihr Team ukrainischen und russischen Soldaten das Leben retteten. Und sie zeigen auch, wie Paiewska zusammenbricht, nachdem Ärzte erfolglos versucht haben, einem Kind das Leben zu retten. Ebenso dokumentieren Paiewskas Aufnahmen einen Luftangriff auf eine Entbindungsstation in Mariupol.

Zwei Wochen lang hat die 53-Jährige gefilmt und dabei über 250 Gigabyte an Material angesammelt. Sie übergab die Speicherkarte am 15. März einem internationalen Team von Journalisten der amerikanischen Nachrichtenagentur AP. Sie waren die letzten internationalen Journalisten in der Stadt am Asowschen Meer. Die Medienschaffenden schmuggelten die Aufnahmen in einem Tampon aus Mariupol und passierten dabei fünfzehn russische Kontrollpunkte, bis sie in ukrainisch kontrolliertem Gebiet waren. Einen Tag nach der Übergabe der Speicherkarte wurden Paiewska und ihr Fahrer Serhi von russischen Soldaten festgenommen.

Ihre Freunde beschreiben sie als grossartige und ausgelassene Persönlichkeit. Die Soldaten nennen sie liebevoll «Sonnenschein». In einer Aufnahme vom 26. Februar hört man, wie ein verletzter russischer Soldat verwundert sagt: «Du kümmerst dich um mich.» Sie antwortet: «Wir behandeln alle gleich.» 

Auf die Frage, ob Paiewska die russischen Soldaten behandle, sagte sie: «Ich könnte nicht anders. Sie sind Kriegsgefangene.» Zwei russische Soldaten werden in ein Spital in Mariupol gebracht, 10. März 2022. 

Von den Russen soll Paiewska während der Inhaftierung ein Paar Unterwäsche und eine Hose erhalten haben. Ein Pelzmantel, den sie während der Verhaftung trug, schützte sie vor der bitteren Kälte in der Zelle. «Sie gaben uns keine Handtücher oder irgendetwas anderes», erzählte sie. «Keine Zahnpasta, keine Zahnbürste, nichts.» Ausserdem durfte sie in den drei Monaten Gefangenschaft nur einmal duschen und nicht einmal das Gebäude verlassen, um im Hof zu spazieren. 

In den Gefängnisbüros sah sie Bilder von Stalin und zwei führenden Figuren der damaligen Geheimpolizei an der Wand. Die Inhaftierten wurden gezwungen, die russische Hymne zu singen. «Ich habe sie gelernt. ‹Ruhm für Putin! Ruhm für Russland!› All diese dummen Gesänge», sagte Paiewska. 

Am Tag ihrer Entlassung öffnete ein Wärter ihre Tür und sagte ihr, sie solle sich umdrehen. «Sie stülpten mir eine Tüte über den Kopf», erzählt die 53-Jährige. Danach wurde sie zu einem Auto gebracht, dann «nahmen sie mir die Tüte vom Kopf und brachten mich aus Donezk weg, ohne etwas zu sagen». 

Die Schilderungen der Sanitäterin decken sich mit einem Bericht der Vereinten Nationen zu den Folterungen und der schlechten Versorgung in den Gefängnissen der Region Donezk seit 2014. Gemäss dem im letzten Sommer veröffentlichten Bericht sollen 4300 bis 4700 Gefangene «systematisch» gefoltert und misshandelt worden sein.