Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Kalkül der Terroristen
Der Hamas kommt die Feuerpause wie gerufen

A member of Ezzedine al-Qassam Brigades, military wing of the Palestinian Hamas movement, takes part in a parade in Gaza City on November 14, 2021. (Photo by MAHMUD HAMS / AFP)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober ist die Lage inzwischen klar. Israel muss den seit knapp sieben Wochen laufenden Gazakrieg militärisch gewinnen, die Hamas vollständig zerschlagen, sie für immer als militärische und politische Kraft ausschalten.

Die palästinensische Terrorgruppe hat es da vergleichsweise leichter. Sie braucht lediglich einen politischen Sieg, der zu einer Fortsetzung des ewigen Status quo im Gazastreifen führt: Die Waffen werden irgendwann unter dem internationalen Druck schweigen. (Alle News zum Gaza-Krieg im Ticker)

Israels Armee und die Militanten werden sich erneut über einige Jahre gegenseitig belauern. Die Hamas wird dabei wie schon zwischen den früheren Kriegen Terroranschläge planen und sich für den nächsten grossen Waffengang rüsten. Dann folgt eine neue grausige Runde mit unendlichem Leid, mit Tod und Zerstörung – noch härter und noch blutiger. (Mehr dazu: So soll der Geiseldeal ablaufen)

Der Mechanismus jedes politischen Untergrundkampfs

Im Konflikt zwischen Israel und den palästinensischen Terroristen gilt der bestens bekannte Mechanismus jedes politischen Untergrundkampfs. Militante, Terroristen, Islamisten oder Befreiungskämpfer gleich welcher Couleur führen ihren bewaffneten Kampf fast immer gegen die weit überlegene Armee eines Staats. Während dieser Staat einen für die Welt erkennbaren Sieg braucht, dürfen die Militanten und Terroristen den Krieg lediglich nicht verlieren. Schon das nackte Überleben als handlungsfähige Kampfgruppe käme auch in Gaza einem Sieg der Hamas gleich. Und das trotz Tausender getöteter Zivilisten, trotz riesiger Zerstörungen, trotz aller Verluste an Kämpfern und Waffen.

Was diesmal anders ist: Die Hamas und die mit ihr verbündeten anderen palästinensischen Terrorgruppen haben etwa 240 Geiseln in ihrer Hand. Das stärkt die Islamisten enorm. Die Motive, weshalb Israels Regierung und ihre Armeeführung nach längerem Zögern nun einer vorerst viertägigen Feuerpause zugestimmt haben, sind ebenso offensichtlich. Der angezählte Premier Benjamin Netanyahu musste dem öffentlichen Druck der Angehörigen der Gekidnappten nachgeben. Er muss so viele Geiseln wie möglich aus der Hand der Hamas retten. Die Familien demonstrieren täglich, jüngst trafen die Verzweifelten den Premier und die wichtigsten Minister, sie lassen Netanyahu nicht mehr vom Haken. Die Familien wollen ihre Angehörigen lebend wiedersehen. (Lesen Sie unsere Analyse: Die Hamas kann mit Geiseldeal punkten)

Da riskante Befreiungsoperationen im undurchschaubaren Set-up des Gazastreifens kaum eine wirkliche Erfolgschance hätten, bleibt dem Regierungschef nur das zähneknirschende Einwilligen in die Feuerpause. 50 israelische Frauen und Kindern werden nun gegen 150 palästinensische Frauen und Jugendliche ausgetauscht, die wegen geringerer Vergehen als mörderischen Terrors in Israels Gefängnissen sitzen. Wenn dieser makabre Deal zwischen Israel und der Hamas funktioniert, könnte die Feuerpause sogar verlängert, könnten weitere Geiseln gerettet werden.

Members of the Ezz-Al Din Al-Qassam Brigades, the armed wing of the Palestinian Hamas movement, parade in Rafah in the southern Gaza Strip on May 28, 2021. (Photo by SAID KHATIB / AFP)

Die Hamas hat damit einen sehr wirkungsvollen Hebel in der Hand. Die Islamisten haben selbst Gründe, eine Feuerpause zu suchen. Zum einen erleiden sie israelischen Angaben zufolge bei den Kämpfen im Norden inzwischen schwere Verluste. Der Teil der Militantenarmee, der im Norden steht und offenbar etwa die Hälfte aller Kämpfer ausmacht, ist angeblich bereits stark dezimiert worden.

Auch die Zahl der Raketenangriffe auf Israel ist viel kleiner geworden. Offenbar gehen der Hamas die Geschosse aus, sind zahlreiche Abschussbasen zerstört worden, können die unterirdischen Waffenfabriken nicht mehr viel Nachschub produzieren. Kurz: Die Hamas ist geschwächt. Aber sie ist keinesfalls geschlagen.

Jetzt, wo die Ausweitung der israelischen Bodenoperation auf den Süden des Gazastreifens ansteht, kommt der Terrororganisation die viertägige Feuerpause als Gelegenheit zur taktischen Neuaufstellung und Auffrischung ihrer Truppen wie gerufen. Wenn die israelische Armee in den Süden und die Grossstadt Khan Yunis vordringt, werden die militärischen Operationen weit schwieriger. Mindestens 90 Prozent der 2,3 Millionen Gaza-Palästinenser befinden sich laut der israelischen Zeitung «Haaretz» bereits in der südlichen Hälfte des winzigen Gebietes. Diese Menschen sind wegen der Bomben und auf Aufforderung Israels in den Süden geflohen.

Hamas-Chef Yahya Sinwar weiss, dass eine steigende Zahl toter palästinensischer Zivilisten ihm in die Hand spielt.

Bodenangriffe mit Panzern oder Bombardements aus der Luft werden in diesem inzwischen mit Menschen wohl am weltweit dichtesten bevölkerten Gebiet aber ungemein schwieriger sein und könnten schnell zum Tod weiterer Zivilisten in grosser Zahl führen. Die Hamas hingegen kann sich kämpfend zwischen den Menschen bewegen. Das macht die Kriegführung noch riskanter für Israel.

Hamas-Chef Yahya Sinwar weiss, dass eine steigende Zahl toter palästinensischer Zivilisten ihm in die Hand spielt. Der internationale Druck auf Israel, diesen fürchterlichen Krieg zu beenden, wird bei steigenden Opferzahlen zunehmen. Und da Sinwar und seine Leute sich nicht sonderlich um die eigenen zivilen Opfer scheren – wer stirbt, kommt nach deren Lesart einfach nur schneller als Märtyrer ins Paradies –, werden die Hamas-Führer diesen Vorteil für sich zu nutzen versuchen.

Geiseln mindestens so viel wert wie Raketen

Den über Gaza herrschenden Islamisten war vor ihrem pogromartigen Terrorüberfall auf die Kibbuzim und Ortschaften im Süden Israels klar, dass die Armee ihrer Feinde mit voller Härte zurückschlagen und nach Gaza einmarschieren wird. Hier zeigt sich das grausame Kalkül einer 240-fachen Geiselnahme: Die gekidnappten Israelis sind im Kampf gegen die Armee mindestens so viel wert wie Tausende Raketen und Granaten.

Hamas-Führer Sinwar und seine Kommandanten wissen auch das. Sinwar wird die übrigen Geiseln nach dem ersten Austausch möglichst lange in der eigenen Gewalt behalten und nur langsam austauschen – wenn er überhaupt alle laufen lässt in absehbarer Zeit. Die Geiseln sind für die Hamas vorerst noch immer die beste Überlebensgarantie.