Küng renoviert«Fugenlos»! «Fugenprotokoll»!
Unser Kolumnist denkt über die Kunst der Fuge nach und lernt neue Worte kennen.
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Der Pianist Glenn Gould sagte einst in einem Interview, es gebe kein Musikstück, welches ihn mehr bewegt habe als der letzte Teil von Johann Sebastian Bachs Zyklus «Die Kunst der Fuge». Er sprach von einer «Atmosphäre des Friedens» und einer «andächtigen Qualität», die sogar für Bach ausserordentlich sei. Eine solche Musik sei schlicht «überwältigend». Ich kann dies nicht nachvollziehen. Für mich klingt das Stück so zwanghaft und aufgeräumt, als hätte es Marie Kondo komponiert.
Allerdings muss ich dazusagen, dass ich von klassischer Klimperkunst keinen blassen Schimmer habe und auf das Wort «Fuge» eh nicht gut zu sprechen bin. Ich denke bei «Fuge» auch nicht in erster Linie an Musik des frühen 18. Jahrhunderts, sondern an Probleme bei Renovationsarbeiten; was dem Umstand geschuldet ist, dass ich kürzlich in solche involviert war. Wer je neu oder umgebaut hat, die oder der weiss, wie intensiv eine solche Aktivität sein kann, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Und eben: Ein Teil der nervlichen Belastung von Um- oder Neubauten betrifft die besagte Fuge, um die man nicht herumkommt. Sie ist ein Hort ästhetischer Probleme. Beispiel Badezimmer: Dort beim Plätteln ein schönes Fugenbild hinzubekommen, das ist Kunst!
Aber nicht nur beim Plätteln eines Badezimmers kommt die Fugenproblematik zum Tragen, sondern auch bei Fussböden. Ich denke, man denkt viel zu wenig über Fussböden nach. Man nimmt sie als gegeben. Dies ändert sich, wenn man etwa den Boden in einer Küche eines Ferienhäuschens im nördlichen Süden ersetzen muss. Keine grosse Sache, meint man, und die Machart des Bodens war auch schnell gefunden: Terrazzo! Denn wie hiess es so schön im Prospekt des Bodenbauers: «Mit Terrazzo-Belägen wählen Sie einen Boden, dessen Eleganz schon im alten Rom und in den Palästen Venedigs zu begeistern wusste.» Das alte Rom! Die Paläste Venedigs! Genau meine Kragenweite! Also her mit dem Terrazzo, auch wenn es bloss um ein paar lausige Quadratmeter ging. «Schimmernde, warme Farben präsentieren sich in grossflächiger und fugenloser Eleganz», schwärmte der Prospekt weiter.
«Fugenlos» ist ein wunderbares Wort, wie «schwerelos» oder «alterslos», allerdings beschreibt es einen Idealzustand. Ein fugenloses Leben gibt es nicht. Kaum ist der Terrazzo gegossen, will der Arbeiter Fugen fräsen. Und schon lernt man ein neues Wort kennen: Negativecken! Der Arbeiter mit der Fräse im Anschlag erklärt: Winkel im Raum, von denen Kräfte auf den neuen Boden wirken, welche zu Rissen führen können.
Risse! Sie sind für Böden das, was Falten für das menschliche Antlitz sind: natürliche Alterserscheinungen, aber selten sonderlich beliebt. Also Fugen! Die nehmen dem Boden die Spannung. Schnell wird aus der versprochenen fugenlosen Eleganz ein die Netzhaut reizender Raster – und der Terrazzo sieht aus wie der Stadtplan von Manhattan. Findet man aber die Möglichkeit von Rissen spannend und sagt dies dem Bodenbauer, lernt man abermals ein neues Wort kennen: Fugenprotokoll. In ein solches werden all die Fugen eingetragen, die zwar empfohlen werden, auf die man aber per Unterschrift auf eigene Verantwortung verzichten möchte. Damit man der Risse wegen später den Bauunternehmer nicht auf Schadenersatz verklagen kann.
Das Fugenprotokoll … klingt schwer nach Johann Sebastian Bach. Aber die Sache hat auch etwas Tröstliches: Renovationsarbeiten lassen zwar das Konto schrumpfen, doch der Wortschatz wird reicher.
Max Küng ist Reporter bei «Das Magazin».
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