Fünf Jahre nach CoronaausbruchPandemie abgehakt, Folgen ignoriert
Die Schweiz hat sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Coronazeit zu wenig auseinandergesetzt. Eine offene Diskussion ist überfällig.

Fünf Jahre nach Corona ist die gesellschaftliche Verarbeitung in der Schweiz immer noch kein zentrales Thema. Im Gegensatz zu anderen Ländern begnügen sich die meisten Medien hierzulande mit Fotostrecken oder Berichten darüber, wie Menschen den Mut fanden, berufliche Träume zu verwirklichen, als das Hamsterrad abrupt zum Stehen kam. Viel zu kurz kommt eine tiefergehende und differenzierte Beschäftigung mit den bleibenden gesellschaftlichen Konsequenzen. Schlagzeilen wie «Die Pandemie ist vorbei» suggerieren einen Abschluss, den es für viele in der Schweiz nie gegeben hat – vor allem nicht für die geschätzt mindestens 300’000 Betroffenen von Long Covid, davon 80 Prozent Frauen.
Warum sprechen wir in der Schweiz eigentlich kaum darüber, was die Pandemie mit uns als Gesellschaft gemacht hat? Wenn Folgen thematisiert werden, dann stehen oft die Überbleibsel von Parteien und sozialen Bewegungen, die den Massnahmen kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, im Vordergrund.
Mit Verweis auf ihre sinkenden Abstimmungs- und Wahlergebnisse werden sie schnell als politisches Randphänomen abgetan. Also alles gut? Mitnichten. Eine aktuelle Studie von Pro Futuris und Mercator Schweiz zeigt, dass die Pandemie auch Jahre danach immer noch zu den emotional am stärksten polarisierenden Themen gehört. Knapp weniger als die Hälfte der Befragten (45 Prozent) in der Schweiz haben sehr oder eher negative Gefühle gegenüber Leuten, die Pandemiemassnahmen ablehnen – nur das Thema Zuwanderung liegt da noch leicht drüber.
Erfahrungsberichte aus unserem zivilgesellschaftlichen Projekt «Zwischentöne – Lernen aus Krisen» bestätigen, dass es noch viel Gesprächs- und Lernbedarf zu Corona gibt. Obwohl das Projekt gesellschaftliche Krisen weiter fasst, stehen diverse Spätfolgen von Corona nach wie vor im Mittelpunkt vieler der dokumentierten Geschichten. Da ist etwa zu erfahren, wie die Impffrage Familien entzweit hat. Oder jemand äussert die Enttäuschung über eine Ärztin, die nicht wusste, wie sich Ansteckungen in einem Haus mit Gemeinschaftsdusche verhindern lassen. Oder man erfährt von der Angst eines Menschen im Abschiebegefängnis, der sich mit sechs Personen ein Zimmer teilen musste, während im März 2020 im Radio zur sozialen Isolation aufgerufen wurde.
Wer nicht gehört wird, zieht sich zurück
Wenn über den raueren Umgang in Politik und Gesellschaft gesprochen wird, folgt oft der Zusatz «seit Corona …». Allerdings wird dieser Zusammenhang selten analysiert oder diskutiert. Zusammenreimen, warum das so ist, bleibt der Leserin überlassen.
Die Langzeitfolgen der Pandemie und der Krisen danach für psychische Gesundheit und soziale Beziehungen sind noch nicht absehbar. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass kollektive Traumata oft erst mit Verzögerung sichtbar werden. Doch wer nicht gehört wird, zieht sich zurück – und gesellschaftliche Enttäuschung kann sich in zukünftigen Krisen erneut in der Form von Ablehnung oder Radikalisierung entladen.
Um das zu verhindern, brauchen wir jetzt eine offene und angstfreie Diskussion darüber, wie wir nach diesem Einschnitt den gesellschaftlichen Umgang miteinander gestalten wollen. Die Kommentarspalte der «Tages-Anzeiger»-Fotostrecke bietet Hinweise, wo wir anfangen könnten: Viele schreiben wehmütig darüber, was sie alles vermissen aus der ersten Shutdown-Zeit der Solidarität und des Miteinanders. Wie können wir das wieder herstellen?
Cordula Reimann und Claudia Meier leiten das zivilgesellschaftliche Projekt «Zwischentöne – Lernen aus Krisen».
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