Gedenken an ermordeten LehrerFrankreich will sich dem Terror nicht beugen
Tausende Franzosen demonstrieren für die Werte ihrer Republik. Die islamistischen Scharfmacher sitzen heute nicht mehr im Ausland, sondern mitten in Frankreich.
In Wellen schwappt der Applaus über den Platz. Mal wird auf der Nordseite geklatscht, mal auf der Südseite. Die Place de la République ist voll mit Menschen, Corona kann sie nicht schrecken. Sie schreckt die Vorstellung, dass sich Frankreich dem Terror beugt und sich von religiös aufgeladenem Hass spalten lässt. Dicht zusammenstehen, das wollen sie an diesem Sonntag in Paris, Alte und Junge, feine Damen mit Pudel auf dem Arm, einfache Leute, Familien. Manche recken eine Mohammed-Karikatur in die Höhe, auf den Transparenten ist ein Wort ganz gross geschrieben. Das Wort steht auch oben auf dem Monument in der Platzmitte: «Liberté».
Juliette hat «Je suis prof» auf ihre Maske geschrieben, «ich bin Lehrer». Der Mord an dem Lehrer Samuel Paty vergangenen Freitag hat sie erschüttert. «Wir waren doch alle einmal an der Schule», sagt die Architektin, die nur ihren Vornamen nennen möchte. «Wir haben alle beigebracht bekommen, wie wichtig Meinungsfreiheit ist.» Sie will auch dagegen aufstehen, dass Islam und Islamismus miteinander vermischt werden. Juliette ist mit einer Freundin gekommen, sie wollen ihre Trauer ausdrücken, den Schock verarbeiten. Und ihr Land gegen die finstere, todbringende islamistische Ideologie verteidigen.
Das Recht auf Gotteslästerung
Die Demonstranten wollen die Meinungsfreiheit hochhalten – diesen Grundwert der Republik, der auch das Recht auf Gotteslästerung einschliesst. Paty, 47 Jahre alt, hatte den Grundwert lehren wollen und zahlte dafür mit seinem Leben. Seit dem Anschlag auf die Zeitschrift «Charlie Hebdo» im Januar 2015 mit zwölf Toten waren Frankreichs Lehrer vom Schulministerium besonders angehalten, diese Werte zu lehren. Paty tat das, indem er umstrittene Mohammed-Zeichnungen aus «Charlie Hebdo» zeigte.
2015 stellten sich in Paris 1,5 Millionen Menschen dem Islamismus entgegen. Ihr Leitspruch war: «Je suis Charlie». An diesem Sonntag ist die Devise «Je suis prof», um Solidarität zu zeigen, wie Emmanuel Macron es gefordert hatte. «Sie werden nicht durchkommen», sagt der Präsident beschwörend. «Sie werden uns nicht spalten.»
Dennoch ist alles anders als 2015. Seither sind in Frankreich 259 Menschen bei islamistischen Attentaten gestorben. Gewöhnung hat das Land nicht erfasst, aber Ermüdung. Es kostet Kraft, sich radikalisierten Muslimen entgegenzustemmen. Nicht zuletzt an den Schulen, wo sich muslimische Schüler mancherorts weigern, am Sport- oder am Biologieunterricht teilzunehmen, oder die Gleichheit von Frauen und Männern bestreiten.
Anders als 2015 sitzen die geistigen Brandstifter nicht in Syrien oder in Afghanistan, sondern in Frankreich. Sie hetzen auf Facebook gegen einen Lehrer, dem dann mit einem Messer der Kopf abgetrennt wird. Und anders als 2015 streiten Politiker diesmal nur wenig über Versäumnisse.
Vor dem Gymnasium von Conflans-Sainte-Honorine, wo Paty unterrichtete, treffen sich Hunderte zu einer Mahnwache.
1,5 Millionen Menschen sind am Sonntag nicht an der Place de la République, aber immerhin mehrere Tausend. In vielen Städten versammelten sich am Wochenende Demonstranten. Vor dem Gymnasium von Conflans-Sainte-Honorine, wo Paty unterrichtete, trafen sich Hunderte zu einer Mahnwache. Viele im ruhigen Vorort im Nordwesten von Paris kannten Paty. Hier unterrichtete er, hier lebte er mit seiner Familie, hier wurde er am Freitag getötet. Die Herbstferien hatten gerade begonnen.
In der langen Serie von Attentaten, die Frankreich erlebt hat, gehört das auf Paty zu den symbolisch und emotional besonders aufgeladenen. Der Angriff wirkt wie ein Attentat auf die Institution Schule an sich, die im Staatsverständnis für die Integration von Menschen jeder Herkunft und Religion sorgt. «Kein Zweifel, wir haben es mit Feinden der Republik zu tun», sagt Bildungsminister Jean-Michel Blanquer. «Die Schule ist das Rückgrat der Republik.»
Besonders erschüttert die Menschen, dass es wohl Videos eines empörten Vaters waren, die den Attentäter Abdoullakh A. aufgestachelt haben. Der Mann prangerte den Lehrer seiner 13-jährigen Tochter wegen seines Unterrichts an, nannte seinen Namen und die Anschrift der Schule. Abdoullakh A. lauerte Paty nach Angaben des Pariser Anti-Terror-Staatsanwalts Jean François Ricard vor dem Gymnasium auf. Er hatte sein Opfer nie selber gesehen, kannte aber dessen Namen. «A. fragte mehrere Schüler, damit sie ihm Paty zeigten», so Ricard.
Abdoullakh A. wurde 2002 in Moskau geboren, war tschetschenischer Abstammung und lebte als anerkannter Flüchtling in der Normandie. Den Behörden war er nie als radikal aufgefallen, wohl aber als gewalttätig. Als Polizisten ihn nach der Tat in Conflans stellen wollten, wurde er mit neun Schüssen niedergestreckt. A. habe mit einem sogenannten Airsoft-Gewehr auf die Beamten geschossen und sie mit einem Messer angegriffen, so Staatsanwalt Ricard. Zuvor verbreitete er noch auf Twitter ein Foto von Patys abgetrenntem Kopf. Dies sei die Rache an dem, «der es gewagt hat, Mohammed zu erniedrigen», schrieb er dazu. Der Account wurde schnell gesperrt.
Unterricht soll keine Mutprobe sein
Die Ermittler sind nun auf der Suche nach möglichen Komplizen oder Mitwissern. Am Wochenende hat die Polizei elf Personen in Gewahrsam genommen, unter anderen die Eltern und Grosseltern des Täters. Auch der Vater der Schülerin, der sein Wutvideo ins Netz gestellt hat, wird vernommen.
Am Mittwoch will Macron Samuel Paty mit einem Staatsbegräbnis als Helden ehren. «Ein Held?», fragt Juliette, die Demonstrantin auf der Place de la République. «Er war kein Held, er hat nur seine Arbeit getan.» Sie will, dass das, was Paty getan hat – Kinder Toleranz und Demokratie zu lehren–, eine Selbstverständlichkeit bleibt. Und nicht zur Mutprobe wird.
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