Analyse zu FrankreichDas Chaos in Paris hat einen Verursacher
Die Debatte zum französischen Staatsbudget zeigt, wie verheerend es war, das Land mit der Auflösung des Parlaments in die Konfusion zu stürzen.
Wie ist es wohl, den Himalaja ohne Handschuhe zu besteigen?
Michel Barnier muss sich nun ständig platte Metaphern aus dem Bergsport anhören, und das hat er sich selbst zuzuschreiben. Frankreichs neuer, konservativer Premierminister kommt aus den Savoyen. Er beschreibt sich gern als Bergler, als «montagnard»: furchtlos im Aufstieg, in der Höhe, in der Kälte. Seine Gelassenheit muss davon kommen, dass er von da oben immer den Horizont sieht.
Barnier ist erst seit ein paar Wochen im Amt und, nun ja, er steht schon am Berg. «Vor der Felswand», heisst es.
Die Sorge des Präsidenten
Der Premier hat jetzt seinen Budgetplan für 2025 vorgestellt, es ist ein Sparetat, weil das Staatsdefizit unter seinen Amtsvorgängern wild gewachsen ist. 60 Milliarden Euro müssen rein, über Streichungen in der Verwaltung und am stolzen Sozialstaat sowie über höhere Steuern für die Superreichen und die grossen Unternehmen im Land. Er hatte nur 15 Tage Zeit, um den Haushalt auszuarbeiten, das ist ziemlich verrückt. Frankreich hat so hohe Staatsschulden wie noch nie, eine Last auch für Europa.
Aber schon fallen alle über ihn her – selbst die Macronisten, die Abgeordneten aus Emmanuel Macrons zentristischem Lager, die ihm als Sherpas dienen sollten. Sie halten die Steuererhöhungen für einen Fehler: Die stehen nämlich quer zum Credo des Chefs, der sich rühmt, die Steuern gesenkt zu haben, vor allem eben für die Reichen und die Unternehmen.
Macron erträgt es schlecht, wenn man an seiner Bilanz kratzt. Barniers Budget aber ist eine Abreibung, eine Desavouierung des Macronismus. Es ist deshalb nicht sicher, ob er damit durchs Parlament kommt.
9. Juni 2024, 21 Uhr
So viel politisches Chaos war schon lange nicht mehr, eigentlich gab es das seit Beginn der Fünften Republik noch nie, also seit 1958. Und so schaut Frankreich zurück auf den Schlüsselmoment, der am Ursprung des Chaos steht: 9. Juni 2024, Abend der Europawahlen, 21 Uhr.
Der Wahlsieg der extremen Rechten von Marine Le Pen war noch höher ausgefallen als gedacht. Macron erschien im nationalen Fernsehen und verkündete den Franzosen, dass er beschlossen habe, das Parlament aufzulösen, sofort, und Neuwahlen zu veranstalten, in ein paar Wochen. Alle waren verwundert, auch seine Vertrauten, niemand verstand die riskante Nummer.
Dass die Lepenisten die Parlamentswahlen dann trotzdem nicht gewannen, war wesentlich das Verdienst der Linken. Die tat sich trotz ihrer internen Differenzen schnell zusammen und appellierte zur Bildung einer republikanischen Front gegen die extreme Rechte. Und sie gewann die Wahl, knapp nur, ohne absolute Mehrheit.
Die Verlierer regieren
Macron aber mochte der Linken nicht einmal die Chance geben, eine tragbare Koalition zu finden. Er erzwang stattdessen nach monatelangem Hinhalten des Landes einen Regierungspakt der Seinen mit den Républicains, Barniers Partei, mit der er schon immer gern koaliert hätte. Mit ihren 46 Sitzen gehörten die Republikaner zu den Verlierern der Wahl, sie hatten auch nicht an der Barrage gegen Le Pen teilnehmen wollen.
Und so bekam Frankreich also eine Regierung ohne Mehrheit, die das Votum der Franzosen in keiner Weise spiegelt. Mehr noch: Barniers Regierung ist eine Geisel Marine Le Pens. Die kann jederzeit beschliessen, das Kabinett mit einem Misstrauensantrag zu stürzen, vom Berg zu stossen. Jetzt zum Beispiel, wenn ihr ein Posten im Budget nicht passt, oder ein Unterposten. So schmächtig war das französische Machtgefüge seit Menschengedenken nicht mehr – eine Zerfaserung, die am 9. Juni 2024 begann, 21 Uhr.
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