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Frankreichs neuer Regierungschef
Einst nannte er Macron «verbraucht» – nun ist Michel Barnier sein Premier

FILE - French President Emmanuel Macron, right, whispers to European Union chief Brexit negotiator Michel Barnier as he visits the International Agriculture Fair, in Paris, France. President Emmanuel Macron named the former EU Brexit negotiator as France's new prime minister on Thursday after more than 50 days of caretaker government. (AP Photo/Michel Euler, File)
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Wenn es von Michel Barnier heisst, er habe ein sehr langes Curriculum Vitae, dann ist das nicht nur nett gemeint. Frankreichs neuer Premierminister ist schon so lange da, in allen möglichen Ämtern und Rollen der Republik und in der Europäischen Union, als Parlamentarier und Minister und als Kommissar, dass sich die knisternde Aufregung, die solche hohen Berufungen im Normalfall im Publikum auslösen, nicht so richtig einstellen mag.

Barnier, 73 Jahre alt, gilt als nüchterner Technokrat, obschon er den Grossteil seiner Karriere als politisch verortbarer, bürgerlich konservativer und liberaler Politiker zugebracht hat. Er ist der älteste Regierungschef, den Frankreich bisher in der Fünften Republik hatte, also seit 1958. Er beerbt im Amt Gabriel Attal, den jüngsten Premier, den Frankreich in diesen mehr als sechs Jahrzehnten hatte. Man kann also nicht sagen, Barnier sei ein Coup für die Verzauberung.

Es gab aber offenbar keinen anderen Kandidaten, der nicht bei der ersten Gelegenheit gestürzt worden wäre. Das war das Kriterium, gewissermassen ein minimales, ein negatives: Barnier soll möglichst nicht beim ersten Misstrauensantrag gestürzt werden können. Das neue Parlament ist in drei ungefähr gleich grosse, politisch konträre Blöcke gespalten, da sind Mehrheiten gegen ihn nun mal leichter zu mobilisieren als Mehrheiten für ihn.

Tag und Nacht habe er gesucht, sagte Macron

Zwei Monate lang, fast auf den Tag genau, hat Emmanuel Macron gebraucht, um das passende Profil zu finden. «Tag und Nacht» habe er mit dieser Suche zugebracht, sagte Frankreichs Präsident einmal, als der politische Betrieb und die Pariser Medien im Sommer zunehmend ungeduldig wurden – als wollte er sich des Vorwurfs der Trödelei verwehren. Und zumindest Wohlgesinnte räumten ein, Monsieur le Président habe ja auch wirklich eine fast unmögliche Lage zu verwalten gehabt. Allerdings hat er sich diese Lage selbst eingebrockt, als er nach den Europawahlen im Juni zur Verwunderung der Franzosen das Parlament aufgelöst hat und vorgezogene Parlamentswahlen beschloss. Ohne jeden Zwang.

Macron hat mehrere mögliche Kandidaten getestet in diesen zwei Monaten, linke und rechte. Auch ein Vertreter der Zivilgesellschaft war dabei. Doch bei Konsultationen mit den Fraktionen wurde schnell klar, dass keiner von ihnen die Gewissheit gehabt hätte, länger als ein paar Wochen im Amt zu überleben. Bei Barnier ist das vielleicht anders. Sicher für ihn stimmen werden die Republikaner, seine Partei, die paradoxerweise mit 47 Abgeordneten nur die viertgrösste Fraktion der Assemblée Nationale stellen. Ebenfalls sicher sind ihm die Stimmen der 166 Deputierten aus Macrons zentristischem Lager, von Renaissance, MoDem und Horizons. Zusammen bringen es Zentristen und Republikaner auf 213 Sitze. Die absolute Mehrheit liegt bei 289.

epa11565120 French far right party Rassemblement National (RN) leader Marine Le Pen arrives  at the meeting hosted by French president with leaders of the parliamentary groups at the Elysee Palace in Paris, France, 26 August 2024. Last Friday, on 23 August, the French President started different consultations with leaders of political groups represented in the National Assembly to appoint a new prime minister after the resignation of Gabriel Attal's government on 16 July.  EPA/TERESA SUAREZ

Aber eben, das ist nicht so wichtig. Wichtiger ist, dass Barnier keine Mehrheit gegen sich hat. Die vereinigte Linke, versammelt im Nouveau Front populaire, wird bestimmt gegen ihn stimmen – das sind 193 Stimmen. Doch da der extrem rechte Rassemblement National von Marine Le Pen mit seinen Alliierten, insgesamt 142 Stimmen, sich nicht a priori gegen Barnier wendet, sollte der nun zumindest ein Kabinett bilden können. Wenn er dann mit seiner Regierungserklärung die Lepenisten nicht gegen sich aufbringt, kann eine neue Etappe seines langen CV beginnen.

Früher sprach Barnier oft wie Marine Le Pen

Unmöglich scheint das nicht zu sein. Denn Barnier, der früher mal als linker, sozialer Gaullist galt, hat in den vergangenen Jahren plötzlich einen persönlichen Rechtsrutsch vollzogen, der ihn ganz an den rechten Rand der Républicains trug. Bei den Primärwahlen der Partei vor den Präsidentschaftswahlen 2022 sprach Barnier oft wie Marine Le Pen. Er forderte zum Beispiel ein «Moratorium der Immigration für drei bis fünf Jahre» und wollte die Studentenvisa suspendieren. Diese ideologische Wende wird nun wieder ganz genau studiert, sie könnte ihm helfen.

Weil er zuvor lange als EU-Kommissar und als Chefunterhändler der EU, als «Mr. Brexit», den Austritt der Briten begleitet hatte, geriet er in Paris fast ein bisschen in Vergessenheit. Er sagt gern von sich, er sei «Patriot und Europäer», um das Image des Brüsseler Technokraten zu korrigieren. Und tief drinnen sei er immer ein «Bergler» geblieben: Seine Familie stammt aus Savoyen.

Bei der Urwahl seiner Partei wurde er dann aber nur Dritter. Hätte er gewonnen, wäre er vor zwei Jahren Macrons Gegner bei den Präsidentschaftswahlen gewesen.

«Joe Biden Frankreichs»

Die Frage ist nun, wie konfliktuell oder wie harmonisch er mit Macron zu regieren gedenkt. Kommt es in Frankreich zu einer Cohabitation, wie man das Zusammenleben an der Spitze der Exekutiven nennt, wenn Präsident und Premier unterschiedlichen politischen Familien angehören? Oder gibt Barnier den Mitarbeiter von Macron, die rechte Hand? In jüngerer Vergangenheit hat Barnier oft klare kritische Worte gefunden, wenn er Macron beschrieb: Der Präsident sei «verbraucht von der Macht», sagte er neulich. Nach den verlorenen Parlamentswahlen sah Barnier schon «der Anfang vom Ende der Macronie», des Lagers und der Welt Macrons. Und nun?

Vom Präsidenten heisst es, er habe von allen Kandidaten, die er getestet habe, ein Bekenntnis zu seinen wichtigsten politischen Reformen eingefordert – allen voran der kontroversen Rentenreform. Barnier wird sie nicht antasten wollen, wie das ein linker Premier getan hätte. Barnier steht auch nicht für höhere Steuern. Aus dem Élysée hört man auch, Barnier sei auch deshalb eine gute Wahl für den Präsidenten, weil sich der «Joe Biden Frankreichs», wie Barnier da und dort schon boshaft genannt wird, keine Ambitionen für die Präsidentschaft mehr habe. Die nächste Präsidentenwahl findet im Mai 2027 statt, wenn die Republik einem geordneten Gang folgt. Aber geordnet ist spätestens seit der Auflösung des Parlaments nichts mehr.