Gegentrend zur digitalen Bilderflut Junge Zürcher entdecken die analoge Fotografie neu
Eben noch schienen Filmlabore auszusterben. Jetzt werden sie überrannt. Anstelle der 20 Smartphone-Selfies geht es nun um die Spannung vor dem einmaligen Moment für das richtige Bild.
Die Branche sei im Elend, sagte Ueli Schwarzenbach vom Camera Store 2018 dieser Redaktion. Kurz zuvor hatte Foto Ganz, das bekannteste Fotogeschäft der Stadt, seine Tore geschlossen. Smartphones hatten Einsteigerkameras verdrängt, und kleine Fachgeschäfte konnten mit den Preisen der grossen Onlinehändler nicht mithalten.
Fünf Jahre später, zurück im Camera Store in Zürich-Hottingen, wo nun Schwarzenbachs Tochter Tiziana Zürni-Bergianti den Laden führt. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen an einem ganz normalen Donnerstagvormittag. Vor der Pandemie arbeiteten hier drei Leute, jetzt ein neunköpfiges Team. Was ist geschehen?
Die Antwort steckt in einer surrenden Maschine im hinteren Ladenteil. Sie ist wahrscheinlich einmal weiss gewesen und hat einen Gelbstich angenommen, an der Vorderseite hat sie einen Schlitz, ein Laufwerk für Floppy Discs. Das Entscheidende geschieht aber im Inneren, wo Farbfilme durch mehrere chemische Bäder geschleppt und so entwickelt werden.
Tiziana Zürni-Bergianti hat die Maschine mitten im Lockdown secondhand gekauft, damit ihr Laden über ein zweites Gerät für die Filmentwicklung verfügt. «Während der Pandemie erhielten wir so viele Filme, dass wir mit dem Entwickeln kaum nachkamen», sagt sie. Zu Spitzenzeiten im Sommer entwickle ihr Geschäft nun 100 Farbfilme am Tag. Im Winter seien es immer noch um die 50.
Der grosse Teil der Kundschaft kommt persönlich vorbei, um die Filme abzugeben. Da ist zum Beispiel der junge Zürcher Alexander Dürig. Er ist von Beruf Kameramann und arbeitet im Job mit 30’000 Franken teuren digitalen Kameras. Privat fotografiert er mit einer Nikon-Spiegelreflexkamera aus den 1980er-Jahren, die ihm ein 80-jähriger Bekannter vor einigen Jahren vermacht hat. Auf dem Gebrauchtmarkt findet man sie in gutem Zustand ab 200 Franken.
«Digitale Fotografie verbinde ich damit, 20-mal abzudrücken und viele Bilder auf dem iPhone zu haben, die ich kaum anschaue. Es regt sich nichts in mir», sagt Dürig. «Mit meiner Filmkamera dagegen bin ich gespannt, weil ich nur einmal abdrücke und den richtigen Moment erwischen will.»
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Nach dem Boom vor einigen Jahren ist die analoge Fotografie weiterhin so populär, dass sie das lokale Gewerbe belebt. Das bestätigt auch Nora Howald von Tricolor in Adliswil. «Im Jahr 2015 waren wir kurz davor, unsere Maschinen abzustellen.» Seither nahm die Zahl der Aufträge wieder zu.
Das Fachlabor Tricolor, das bis 2017 in der Stadt Zürich tätig war, führt an der Badenerstrasse noch heute einen der letzten Briefkästen, in welche die Kundschaft die zu entwickelnden Filme rund um die Uhr einwerfen kann; er wird täglich geleert. Während Tricolor nach der Jahrtausendwende 100 bis 200 Filme pro Tag entwickelte, sind es derzeit um die 40.
Vor allem sehr junge Menschen hätten die analoge Fotografie für sich entdeckt, sagt Howald. Darunter professionelle Fotografen, die ihre Arbeiten für Zeitschriften und Onlinemagazine analog umsetzen, aber auch Enthusiasten, die aus reiner Freude zur Filmkamera greifen. Im Tricolor-Labor würden sich die Bilder mit künstlerischem und professionellem Anspruch und die Freizeit-Schnappschüsse etwa die Waage halten.
Wie das Sauerteigbrot in der Corona-Krise
Die Fotografiehistorikerin Estelle Blaschke von der Universität Basel sprach in einem SRF-Interview von einer Gegenreaktion «auf die Flüchtigkeit und Dematerialisierung digitaler Medien». Das wiederkehrende Interesse an der Analogfotografie erklärt sie sich mit der Langsamkeit des Mediums: Erstens werden die Motive aufgrund der begrenzten «Speicherkapazität» des Mediums mit Bedacht gewählt, und zweitens ist das Resultat nicht sofort zu sehen.
Den Trend zusätzlich befeuert hat die Corona-Pandemie, als viele Menschen wegen der Lockdowns mehr Zeit für neue Hobbys hatten. Mit der analogen Fotografie verhielt es sich wie mit dem Sauerteigbrot: Auch dort wählten Hobbybäckerinnen und -bäcker bewusst den komplizierteren Prozess, vertieften sich in die Materie und erfreuten sich an ihren Lernfortschritten.
Ein weiteres florierendes Geschäft ist Ars-Imago an der Josefstrasse. Neben Kameras und Filmen wird dort alles für die heimische Dunkelkammer angeboten: Chemikalien zur Filmentwicklung, lichtempfindliches Fotopapier für Abzüge, Ordner für die Negative. Ein bemerkenswerter Verkaufserfolg ist die Lab-Box von Ars-Imago, ein kleiner Kasten aus Plastik, mit dem Laien selber Filme entwickeln können, ohne dafür eine Dunkelkammer einzurichten. Laut Ars-Imago wurden weltweit 18’000 Stück abgesetzt.
Der Geschäftsführer Alessandro Franchini startete vor 20 Jahren mit einem kleinen Laden in Zug, eigentlich eher aus Liebhaberei. Freunde hätten ihn schief angesehen, erzählt er, schliesslich sei das die Zeit gewesen, in der die Umsätze der analogen Fotoindustrie rasant eingebrochen seien.
In seiner Nische sei das Geschäft trotzdem stetig gewachsen. 2016 zog Ars-Imago nach Zürich an die Badenerstrasse um, ins ehemalige Geschäft von Foto Ernst. 2022 dann aus Platzgründen in den Kreis 5.
Mit der Eröffnung in Zürich sei die Kundschaft stark gewachsen, sagt Franchini. Sicherlich gebe es hier mehr Laufkundschaft. Hinzu komme aber auch, dass das Interesse an der Filmfotografie in der urbanen Umgebung grösser sei, weil hier mehr Studierende, Kunstschaffende und Profifotografen verkehrten.
Die Berufsschulklasse zählt nur sieben Lernende
Im Hottinger Camera Store entwickelt derweil Noah Gürboy Schwarzweissfilme in der Dunkelkammer im Keller. Anders als beim Farbfilm macht er dies weitgehend in Handarbeit. Die Filme kommen nacheinander ins Entwickler-, Stopper- und Fixierbad, bevor sie gewässert und zum Trocknen aufgehängt werden. Vor Gürboy hängen jetzt neun Filmstreifen, die von einer Hochzeit stammen, bei der die Gäste mit Einwegkameras den Abend dokumentierten.
Er achte nicht darauf, was auf den Filmen zu sehen sei, sagt Gürboy. Das geschehe höchstens beim Scanvorgang, «aber nach dem tausendsten Bild achtest du nur noch auf die technischen Aspekte, auf die Helligkeit und die Farbwiedergabe».
Noah Gürboy macht im Camera Store die Ausbildung zum Fotomedienfachmann. An der Berufsschule zähle seine Klasse gerade mal sieben Leute, sie kommen aus der halben Deutschschweiz. In seiner Freizeit fotografiert Noah Aufträge für Modeagenturen, Konzertveranstalter und Bands. Immer analog.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Einen Stock weiter oben betritt Olivia Kurz das Geschäft. Die Grafikerin trägt eine Leica M6 um den Hals. Ihre Traumkamera, wie die 32-Jährige sagt. Die M6 kam ursprünglich 1984 auf den Markt. Vor einem Jahr hat die Firma Leica eine Neuauflage lanciert, nachdem sie die Produktion von analogen Kameras eigentlich eingestellt hatte. Neupreis: circa 5500 Franken.
Wie die meisten Kundinnen und Kunden im Camera Store lässt sie ihre Filme zwar hier entwickeln, aber sie bestellt nicht etwa physische Abzüge, sondern digitale Scans. Eine Auswahl stellt sie auf Instagram. Wenn aus den Negativen am Ende doch digitale Daten werden – warum also der ganze Aufwand?
Sie möge das Handwerk und den ganzen Prozess bei der analogen Fotografie und den Look der Bilder, sagt Olivia Kurz. Sie fotografiert vor allem Porträts von Freunden und Street Photography, also Strassenszenen im urbanen Raum.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
An der Theke sitzt der Kamerafachmann Raffaele Kammerer und ist gerade daran, zwei alte Polaroidkameras instand zu setzen. Hier eine Schraube anziehen, dort eine Dichtung ersetzen. Wie die meisten im Camera-Store-Team ist er auffallend jung. Er ist Autodidakt und bezieht sein Wissen aus alten Bedienungsanleitungen und Youtube-Videos. Kammerer zeigt auf eine unter Enthusiasten besonders gefragte Mamiya-Mittelformatkamera: «Für diese gibt es so gut wie keine Ersatzteile. Ich kann sie nur flicken, wenn ich ein ausrangiertes Exemplar ausschlachte.»
Tipps erhält Kammerer von Claudio Fabio, der regelmässig im Hottinger Geschäft vorbeischaut und dafür bekannt ist, in seiner Werkstatt in Horgen jede noch so alte Kamera zum Laufen zu bringen. «Eine Legende», sagt Kammerer.
Im Verkaufsschrank vor Raffaele Kammerer steht eine Auswahl, die von einfachen Kompaktkameras bis zur Leica aus dem Jahr 1926 reicht. Gefragt seien vor allem vollautomatische «Point and Shoot»-Kameras und günstige Spiegelreflexkameras.
Ein Kunde um die vierzig erkundigt sich bei Kammerer nach abgelaufenen Filmrollen. Auf Nachfrage erklärt der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will: Je älter ein Film sei, desto eher komme es zu interessanten Farbverschiebungen und reizvollen Emulsionsfehlern. «Abgelaufene Filme sind ein Glücksspiel, weil man nie weiss, was herauskommt. Kürzlich hatte ich eine Rolle Neopan 400, die vor zehn Jahren abgelaufen war. Das war super.»
Er fotografiere seit gut 25 Jahren analog Landschaften und Architektur. «Die analoge Fotografie schafft eine Distanz zwischen Objekt und Betrachter, die in meinen Augen ein gutes Bild auszeichnet. Diese Distanz ermöglicht eine neue Perspektive auf die Welt und zusätzliche Interpretationen.» Deshalb spreche ihn die Digitalfotografie nicht an. Sie ist ihm zu scharf, zu nahe an der Realität.
Fehler gefunden?Jetzt melden.