Vorurteile gegenüber Eidgenossen«Jede Geschichte ist willkommen, welche die Schweizer lächerlich erscheinen lässt»
Misstrauisch, stur, langweilig: Klischees über die Schweiz finden sich in Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert ebenso wie in Expats-Onlineforen. Warum fasziniert das Bild des unfreundlichen Eidgenossen die Welt so sehr?

Heutzutage würde man die Frau eine Travel-Influencerin nennen. Doch da es im Jahr 1863 bekanntlich weder Internet noch Instagram gab, hielt die Engländerin Jemima Morrell ihre Eindrücke, die sie auf ihrer Reise durch die Schweiz sammelte, handschriftlich in einem Notizbuch fest. Die majestätische Bergkulisse begeisterte sie – die Rigi bei Sonnenaufgang, das Läuten der Kuhglocken, der Klang des Alphorns.
Bloss für die einheimische Bevölkerung fand die reiselustige Bankierstochter weniger lyrische Worte. Als «abergläubisch, ignorant und schmutzig» beschreibt Morrell die Schweizerinnen und Schweizer, und als gastfreundlich erlebt sie das Alpenvolk schon gar nicht. Dafür ärgert sie sich über aggressiv bettelnde Kinder und «aufsässige Marktschreier». Sie schildert Einwohner ihres Reiselandes als eine Art Plage. Es heisst: «Dieser aufdringliche Schwarm überfiel uns und liess nicht von uns ab.»
Distanziert, wenn nicht rassistisch
Waren die Schweizerinnen und Schweizer gegenüber Fremden wirklich so? Sind sie es womöglich heute noch?
Bis auf den heutigen Tag zeichnen Touristen und Zugezogene ein Bild von der Schweiz, das an Morrells unvorteilhafte Schilderungen und andere abfällige Reiseberichte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erinnert. Heute äussert sich diese Kritik nicht mehr in Reisetagebüchern, sondern in Umfragen, Ratings oder Instagram-Posts. Neuestes Beispiel: eine Umfrage für den «Expat-Insider-Report». Punkto Freundlichkeit der Einheimischen setzen die 12’500 befragten Expats die Schweiz in einem internationalen Rating auf Platz 46 von 53.

Wenig schmeichelhaft ebenfalls das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage unter in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländern aus dem Jahr 2023: 68 Prozent der Befragten empfanden die Einheimischen als distanziert, 60 Prozent bezeichneten die Schweizerinnen und Schweizer gar als rassistisch.
Schliesslich tragen die regelmässig viral gehenden Klagen von Social-Media-Prominenten, die sich schockiert über das helvetische Preisniveau zeigen, auch nicht zu einem besseren Image des Landes bei. Die deutsche Streamerin Fibii etwa schimpfte unlängst: «Schweizerinnen und Schweizer, schämt euch, dass euer Land so teuer ist!»
Nationale Stereotype, Verallgemeinerungen über ganze Völker also, mögen stimmen oder nicht – meistens aber sind sie bemerkenswert langlebig. Ihre Resistenz gegenüber Zeit und Realität beruht auf Wiederholung, sozialer Verankerung und medialer Verstärkung. Vorab negative Stereotype können über Generationen weitergetragen werden, auch wenn sie in Wirklichkeit längst überholt sind.
«Ein Volk auf der niederen Stufe der Kultur»
Selbstverständlich trifft dies nicht nur auf Klischees über Schweizerinnen und Schweizer zu. Der Engländer? Unerschütterlich höflich, wetterfest und mit einem trockenen Humor gesegnet. Der Franzose? Charmant und kultiviert, allerdings mit dem Hang, jede Bemerkung in eine Debatte über die eigene kulturelle Überlegenheit zu verwandeln. Und der Deutsche? Der ordnet sein Leben nach DIN-Normen, als wäre Effizienz die erste Bürgerpflicht.
Jemima Morrell, die mit einer der ersten Pauschalreisen des Tourismus-Revolutionärs Thomas Cook die Schweiz bereiste, stand mit ihrem ungnädigen Urteil nicht allein. Schon der grosse Goethe beklagte in seinen Reiseaufzeichnungen von 1779 die Reserviertheit der Schweizerinnen und Schweizer. Der deutsche Naturforscher Johann Gottfried Ebel legte 1793 in seiner «Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweiz zu bereisen» nach: Die Alpenbevölkerung sei misstrauisch gegenüber allen Fremden. Und der Pfarrer und Reisebuchautor Christian Gottlieb Schmidt, ebenfalls ein Deutscher, der von 1786 bis 1787 die Schweiz bereiste, war erbarmungslos in seinem Urteil: Die Einheimischen seien «ein Volk auf der niederen Stufe der Kultur».
Die schmähende Darstellung der Schweizer Bevölkerung im 19. Jahrhundert, die bis heute nachhallt, ist kein isoliertes Phänomen, sondern entspricht vielmehr einem damals gängigen panalpinen Klischee. Vermögende Flachländer aus dem Ausland, oft urban, oft geprägt von protestantischen Gesellschaftsidealen, zeichneten pauschal die Bergbewohner der Schweiz, Italiens und Österreichs in ihren Reiseberichten negativ: als rückständig, kulturlos und engstirnig. Während in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Städten Fabrikschlote den Fortschritt symbolisierten, gerieten die Bergregionen wirtschaftlich ins Abseits. In den Augen der reisenden Städter waren sie zwar pittoresk, aber kulturell und gesellschaftlich unbedeutend. Orte für romantische Naturbetrachtung, bewohnt von sonderbaren Menschen.
Der Fremde will sich besser fühlen
Diese Herabsetzung folgte einer tieferliegenden kulturellen Mechanik. «Die negativen Pauschalisierungen sind immer auch eine Legitimierung der eigenen Kultur», sagt die Historikerin Martina Kälin aus Brunnen SZ, die Reiseberichte des 19. Jahrhunderts nach Darstellungen des Kantons Schwyz und der Schwyzer Bevölkerung analysiert hat. Die als abergläubisch und misstrauisch beschriebenen Alpenbewohner dienten dabei als Folie, um die eigene zivilisatorische Überlegenheit und moralische Wohlanständigkeit zu betonen.

Besonders das angebliche Misstrauen gegenüber Fremden und das stereotypisierte Narrativ einer stur-dumpfen Verstocktheit des homo alpinus prägte, so scheint es, unauslöschlich die Sichtweise auf die Schweizerinnen und Schweizer. Dabei geht unter anderem vergessen, dass für einen herzlichen Schwatz zwischen Einheimischen und Touristen bis vor wenigen Jahrzehnten in der Regel die gemeinsame Sprache fehlte.
Das verzerrte Bild von den argwöhnischen Schweizerinnen und Schweizern erlebt heute eine fragwürdige Konjunktur in der Kritik der Expats an ihrem Gastland. Zuerst in Onlineforen, bald darauf in Zeitungen und Fernsehen berichteten erstmals vor ein paar Jahren auf Zeit zugezogene Ausländerinnen und Ausländer vom «Swiss Stare», dem Starren der Schweizer. Der Ausdruck suggeriert, dass Schweizerinnen und Schweizer Fremde oder Neuankömmlinge auffällig und ungeniert beobachten, anstarren, als eine Form der passiv-aggressiven Distanzierung gewissermassen. So schrieb ein Expat aus den USA in einem Blog-Beitrag: «Die Schweizer können Nichtschweizer riechen. Ich spüre, wie sie mich überall anstarren. So frustrierend.»
Eine banale Debatte
Zweifellos gibt es misstrauische Schweizerinnen und Schweizer, unfreundliche und verstockte ebenfalls. Aber diese Eigenschaften zu einem Nationalcharakter hochzustilisieren, greift zu kurz. Nur schon deshalb, weil Expats ähnliche Vorwürfe auch gegenüber anderen Gastländern erheben – in Deutschland etwa, auch in Japan.
Wie banal die Debatten über vermeintliche Nationalcharaktere in der Öffentlichkeit geführt werden, bringt die irische Autorin Clare O’Dea, Verfasserin des Buches «Die wahre Schweiz: Ein Volk und seine 10 Mythen», auf den Punkt. O’Dea, die seit 2003 im Kanton Freiburg lebt, schreibt in ihrem Blog: «Besonders in der englischsprachigen Welt, aber auch unter Deutschen gibt es einen grossen Appetit auf kulturkritische Geschichten über die Schweizer. Generell ist jede Geschichte willkommen, welche die Schweizer lächerlich oder unheimlich oder beides erscheinen lässt.»

Das Resultat dieses Diskurses mag unterhaltsam sein, im Speziellen für Ausländerinnen und Ausländer. Zur Kenntnis zu nehmen bräuchte man es indessen nicht. O’Dea jedenfalls meint: «Es ist eine Karikatur der zwanghaft recycelnden, roboterhaft langweiligen und alberne Regeln setzenden Schweizer. Eine Karikatur, die über Jahre hinweg so sorgfältig aufgebaut wurde, dass sie wohl nie wieder abgebaut werden kann.»
Selbstverständlich, es gibt auch viele positive Klischees über die Schweiz. Ihr Wahrheitsgehalt ist in der Regel ebenso prekär wie derjenige der negativen: unversehrte Natur, ewige Neutralität, eine pünktliche nationale Airline … Auch wenn man sich diese Zuschreibungen gerne gefallen lässt: Klischees sind nicht ein Spiegel der Wirklichkeit, sondern eine Projektion kollektiver Vorstellungen. Und Klischees über die Schweizerinnen und Schweizer erzählen sich einfach zu gut, um vergessen zu werden.
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