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Abschied von Angela Merkel
Europas heimliche Königin hinterlässt eine grosse Lücke

Über 100 EU-Gipfel in 16 Jahren: Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel in Brüssel.  
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Ein EU-Gipfel ohne Angela Merkel, eigentlich unvorstellbar. Sie gehört in Brüssel fast zum Inventar. Die deutsche Bundeskanzlerin hat während ihrer Ära an über 100 Treffen der Staats- und Regierungschefs teilgenommen, ist mit Abstand die Dienstälteste im Kreis ihrer Regierungskollegen. Fast immer war die EU im Krisenmodus, Angela Merkel als Vertreterin des mächtigsten Mitgliedsstaates automatisch in einer Schlüsselrolle. Nicht immer wurde die deutsche Bundeskanzlerin den Erwartungen gerecht. Doch jetzt gegen Ende der Merkel-Ära macht sich in Brüssel auch Nostalgie breit.

EU-Gipfel laufen immer nach einem ähnlichen Ritual ab. Die Staats- und Regierungschefs schreiten über den roten Teppich im Brüsseler Gipfelgebäude, sagen ein paar Worte in die Mikrofone, reagieren manchmal auf Fragen. Nicht Angela Merkel, die immer nur ihr vorbereitetes Statement vorgetragen hat. Oben begrüsst man sich vor laufenden Kameras, bevor die Sitzung beginnt. Mittendrin meist Angela Merkel als eigentliches Machtzentrum, in Jacketts in wechselnder Farbe. Hier ein kleiner Austausch, da ein paar Worte. Später schliessen sich die Türen, und es geht unter Ausschluss der Öffentlichkeit weiter.

Die Erwachsene im Raum

Angela Merkel, die einzige Erwachsene im Raum. So wird die stets nüchterne Bundeskanzlerin an den EU-Gipfeln im Kreis der Eitlen und Mächtigen gerne beschrieben. Andere sehen sie als heimliche Königin Europas. Doch ist der Titel gerechtfertigt? Es war jedenfalls keine grosse Liebe auf den ersten Blick. Anders als ein Helmut Kohl hatte sie stets ein nüchternes Verhältnis zur EU, dem Friedensprojekt der Gründungsgeneration. Auch zwischen den Europäern und der Ostdeutschen hat es lange nicht wirklich gefunkt, im Gegenteil.

In der Eurokrise ab 2009 zeigte Angela Merkel lange wenig Mitgefühl für die Nöte Griechenlands. Zu Hause waren Hilfen für die Südeuropäer nicht populär. Weshalb sollten die Deutschen für die Fehler der Griechen geradestehen? Angela Merkel schürte lange das Narrativ von den «Schuldensündern» in Südeuropa. Sie zögerte und bremste und trieb so den Preis für die Stabilisierung Griechenlands unnötig in die Höhe. In Griechenland, Italien und Spanien kippte die Stimmung gegen Europa, und die Deutsche wurde zur eigentlichen Hassfigur. Da war sie «Madame Non» statt Königin von Europa.

Totengräberin des Euro?

Erst im letzten Moment stoppte Merkel damals die Pläne ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble, Griechenland aus der Eurozone zu drängen. Ein Rauswurf Griechenlands hätte womöglich eine Kettenreaktion ausgelöst, wäre der Anfang vom Ende der Einheitswährung gewesen. Als Totengräberin des Euro wollte Merkel dann doch nicht in die Geschichte eingehen. So hat sie immer reagiert, im letzten Moment zum rettenden Kompromiss die Hand geboten, milliardenschwere Rettungsschirme aufgespannt, moderiert.

Doch präventiv agiert hat sie selten, Zukunftsvisionen waren nicht ihr Ding. Das rächte sich auch 2015, als die Flüchtlingskrise erneut zu einer Zerreissprobe in der EU führte. In Berlin war man genauso überrascht wie in den anderen Hauptstädten, als sich syrische Asylsuchende aus der Türkei Richtung Europa auf den Weg machten. Dabei hätte man auch diese Krise voraussehen können.

Während der Ära von Angela Merkel haben sich die Gräben in der EU vertieft.

Immerhin, in Südeuropa konnte Angela Merkel mit den offenen Armen und Grenzen für die Flüchtlinge punkten und das Bild von der kaltherzigen Deutschen korrigieren. Doch auch den Entscheid, die Grenzen offen zu lassen, traf die Bundeskanzlerin allein und ohne Rücksprache mit den europäischen Partnern.

Die Osteuropäer werfen Merkel den Alleingang heute noch vor. Und so haben sich während der Ära von Angela Merkel die Gräben in der EU vertieft. Zwischen Nord und Süd in der Eurokrise, dann zusätzlich noch zwischen Ost und West in der Flüchtlingskrise.

Wenig Rücksicht auf die Interessen der europäischen Partner hat die deutsche Bundeskanzlerin auch im Konflikt um Nordstream II genommen, die Pipeline, die noch mehr russisches Gas nach Europa bringen soll. Eigentlich haben sich die EU-Staaten darauf geeinigt, die Abhängigkeit vom russischen Gas zu reduzieren. Die neue Pipeline wird nun Europas Abhängigkeit über Jahre zementieren. Angela Merkel hat die deutschen Interessen höher gewichtet als die Sensibilitäten der Osteuropäer, die den Einfluss Russlands fürchten.

Macron hängen gelassen

Auch Emmanuel Macron liess Angela Merkel lange hängen. Zu seinem Amtsbeginn 2017 hatte der französische Präsident einen leidenschaftlichen Appell für mehr europäische Souveränität lanciert. Doch die deutsche Regierungschefin ging erst in der Corona-Krise auf Macron zu und wich vom deutschen Dogma ab, dass jeder für seine Schulden selber verantwortlich sein sollte. Berlin und Paris machten gemeinsam den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds möglich.

Plötzlich funktionierte der deutsch-französische Motor wie in besten Zeiten. Erstmals darf die EU-Kommission Schulden machen, um Investitionen in den Mitgliedsstaaten anzukurbeln. Angela Merkel hat sich in der Pandemie vom Tabu verabschiedet, als sie sah, dass sonst der Binnenmarkt auseinanderbrechen könnte.

Wie immer mitten im Getümmel und als Fels in der Brandung: Angela Merkel an einem EU-Gipfel.

So haben sich zum Ende ihrer Ära die Europäer mit Angela Merkel versöhnt, sehen Deutschland heute laut einer Umfrage als vertrauenswürdige und proeuropäische Kraft. Die Angst vor der deutschen Dominanz ist geschwunden. Auch das ist Angela Merkels Verdienst. Unzählige Nächte hat Angela Merkel in Brüssel durchgemacht, hat vermittelt und um Lösungen gerungen. Wenn sie jeweils zu später Stunde im deutschen Pressesaal des Gipfelgebäudes die Ergebnisse präsentierte, hat sie sich die Müdigkeit nie anmerken lassen.

Auch wenn hinter verschlossenen Türen böse Worte gefallen sind, Angela Merkel hat es immer geschafft, die Konflikte kleinzureden und kleinste gemeinsame Nenner als Erfolge zu präsentieren. Die Europäerinnen und Europäer haben Merkel als Fels in der Brandung schätzen gelernt. Nun wird sich die Gruppendynamik bei den Gipfeltreffen ändern müssen. Einfach wird es nicht sein, die Lücke zu füllen, die Angela Merkel in Brüssel hinterlässt.