Neuer Schwung für KonzerninitiativeEuropa verhandelt über strenge Regeln für Unternehmen
Die EU-Kommission präsentierte einen Vorschlag, dessen Verpflichtungen weit über die Konzernverantwortungsinitiative hinausgehen. Die damaligen Initianten wollen nun den Bundesrat unter Druck setzen.
Sie sagte es im Fernsehen, sie sagte es in Turnhallen und auf liebevoll dekorierten Podien. Sie sagte es im Medienzentrum des Bundeshauses, sie sagte es im Radio und im Internet natürlich, sie sagte es jeder Journalistin und jedem Journalisten, der ihr zuhören wollte.
Sie sagte es allen!
Zum Beispiel einer Redaktorin von «reformiert.». Im Gespräch mit der kirchlich geprägten Zeitschrift argumentierte FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter umfeldgerecht mit dem Schöpfer und der Bibel. «Wir sollten jetzt besonnen und mit Augenmass handeln – wie es schon in der Bibel heisst», sagte Keller-Sutter und wiederholte dann jenes Argument, das sie bei keinem Auftritt zu erwähnen vergass: Der Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative sei darum so bestechend, weil er international abgestimmt und kein Alleingang der Schweiz sei.
Das war der Kern der Argumentation der Bundesrätin, damals, im November 2020, als die Schweiz aufgebracht über die Konzernverantwortungsinitiative stritt. Bitte kein Alleingang. Bitte die gleichen Regeln für Firmen hier und ennet der Grenze. Bitte gleich lange Spiesse für alle!
Am Schluss verfing diese Argumentation, wenn auch knapp. Die Konzernverantwortungsinitiative wurde vom Volk angenommen und von den Ständen abgelehnt, ein abgeschwächter Gegenvorschlag wurde umgesetzt, Karin Keller-Sutter hatte gewonnen.
EU macht Vorschläge
Heute, gut eineinhalb Jahre nach der Abstimmung, begegnet der Bundesrätin das alte Argument wieder – als böser Wiedergänger allerdings. Denn der Schweiz droht tatsächlich ein Alleingang, aber nicht so, wie das Karin Keller-Sutter einmal gemeint hatte. Diesen Februar – am Vorabend der russischen Invasion in die Ukraine, wohl auch darum in der Schweiz weitgehend unbeachtet – präsentierte die EU-Kommission ihre eigenen Vorschläge für eine europaweite Konzernverantwortung.
Firmen sollen demnach verpflichtet werden, «negative Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die Menschenrechte, wie Kinderarbeit und Ausbeutung von Arbeitnehmern, sowie auf die Umwelt – beispielsweise Umweltverschmutzung und Verlust an biologischer Vielfalt – zu ermitteln und erforderlichenfalls zu verhindern, abzustellen oder zu vermindern».
Was die Kommission hier in ihrem Bürokratendeutsch verkündete, geht über die Vorschläge der Konzernverantwortungsinitiative hinaus. Beispielsweise sollen Firmen auch für Vergehen ihrer Zulieferer haften.
«Vielleicht werden wir einmal zurückschauen und sagen: Hätten wir die Initiative doch angenommen.»
Der Vorschlag geht nun Ende August ins Europäische Parlament, das sich bereits zu einem früheren Zeitpunkt zur Konzernverantwortung geäussert hatte (und dabei noch strengere Regeln gefordert hatte), und in den Rat der EU. Ziel ist es, das neue Gesetz Ende 2023 in Kraft zu setzen.
Man müsse diesen Prozess nun sehr genau verfolgen, sagt Mitte-Nationalrat Simon Stadler (UR), ein Befürworter der Konzernverantwortungsinitiative. Noch sei nichts Definitives entschieden, doch die Konturen des europäischen Gesetzesprojektes liessen sich heute schon recht genau erahnen.
«Was die EU will, geht mindestens so weit wie die Konzernverantwortungsinitiative. Vielleicht werden wir einmal zurückschauen und sagen: Hätten wir die Initiative doch angenommen.» Unter anderem sei auch noch ein Klimaartikel im Gespräch. Der Vorschlag der EU-Kommission würde einen direkten Einfluss auf Firmen in Drittstaaten haben – also auch auf Firmen aus der Schweiz. «Dieses neue Gesetz wird uns so oder so betreffen.»
Noch nichts beschlossen
Auch FDP-Ständerat Andrea Caroni (AR) plädiert dafür, den parlamentarischen Prozess in der EU genau zu beobachten – allerdings kommt er zu anderen Schlüssen als Simon Stadler. Caroni war ein Gegner der Konzernverantwortungsinitiative, er unterstützte den Gegenvorschlag, und er glaubt, dass auch in der EU noch nicht alles zu Ende besprochen sei. Es gebe in der Union auch Kräfte, denen diese Vorschläge viel zu weit gingen. «Beschlossen ist noch gar nichts. Wir beurteilen die EU-Richtlinie dann, wenn sie definitiv ist.»
So sieht es auch das Bundesamt für Justiz. Wie lange diese Diskussion dauere und wann eine entsprechende Richtlinie in Kraft treten könne, lasse sich derzeit nicht abschätzen, heisst es auf Anfrage. Das Bundesamt hat bereits im Februar 2022 den Auftrag erhalten, die Vorschläge der Kommission zu analysieren, und wird voraussichtlich bis Ende 2022 eine Einschätzung vornehmen, ob Anpassungsbedarf für die Schweiz besteht.
Die damaligen Initiantinnen und Initianten wollen nicht so lange warten. Sie starten in diesen Tagen eine Petition, um Karin Keller-Sutter aufzufordern, selbstständig ein neues Konzernverantwortungsgesetz zu erarbeiten. «Die Schweiz ist bald das einzige Land in Europa ohne Konzernverantwortung», sagt Rahel Ruch von der Koalition für Konzernverantwortung. «Darum muss jetzt der Gesetzgebungsprozess starten.»
Den Druck erhöhen wollen die damaligen Initianten mit einer Umfrage von Demoscope, die sie selber in Auftrag gegeben haben. Gemäss der Umfrage würde sich über ein Drittel der Befragten, die 2020 noch gegen die Initiative waren, angesichts der strengeren Regeln heute anders entscheiden.
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