Zum UN-Gipfel für Biodiversität in New York«Es ist erschreckend, wie wenig erreicht wurde»
Kein einziges internationales Ziel zur Biodiversität wurde in den letzten zehn Jahren erreicht, auch in der Schweiz nicht. Für den Schweizer Pflanzenwissenschaftler Markus Fischer verfolgt die Politik einen falschen Ansatz.
Die Veranstaltung fand gestern nur am Rande der 75. UNO-Vollversammlung in New York statt. Der Gipfel zur Biodiversität war eine Vorbereitungskonferenz für die grosse Konferenz im nächsten Jahr, wo einmal mehr über die Zukunft verhandelt wird. Die anwesenden Staatschefs der Mitgliedsstaaten der Biodiversitäts-Konvention wurden dabei mit dem Ergebnis konfrontiert: Die Nationalstaaten haben in den letzten zehn Jahren den Arten- und Landschaftsschutz total vernachlässigt. Auf einen Punkt gebracht: Es bräuchte 1,7 Erden, um die natürlichen Ressourcen – Boden, Wald, Wasser, Nutztiere –, die der Mensch zwischen 2011 und 2016 verbraucht hat, zu regenerieren.
Markus Fischer, Sie sind Mitglied des Expertengremiums des Weltbiodiversitätsrates IPBES. Wie schätzen Sie die letzten zehn Jahre ein?
Es ist erschreckend, wie wenig erreicht wurde. Auf dem Papier wurde zwar viel unternommen: Seit 1992 gibt es die Biodiversitätskonvention, bis Ende des Jahres läuft die UN-Dekade der Biodiversität, nun soll die UN-Dekade der Renaturierungen folgen. Aber der vor wenigen Wochen veröffentlichte Biodiversitätsbericht GBO-5 bestätigt, dass kein einziges der weltweiten Ziele, die vor zehn Jahren zur Biodiversität beschlossen wurden, erreicht wurde. Kein Land hat die Vorgaben erfüllt, auch nicht die Schweiz.
Auch der Weltbiodiversitätsrat hat letztes Jahr umfassend aufgezeigt, dass die Tier- und Pflanzenarten und die Vielfalt der Landschaften dramatisch zurückgehen. Spüren Sie heute den politischen Willen zu einer Veränderung?
International wäre man dazu nicht schlecht aufgestellt. Die Biodiversitätskonvention wurde von über 190 Ländern gegründet, ebenso die Klimarahmenkonvention und die Konvention gegen die Landverwüstung. Viele Probleme sind also schon lange erkannt. Aber die Formulierung ambitionierter internationaler Ziele und ihre wirkungsvolle Umsetzung in den Nationalstaaten ist nach wie vor sehr schwierig, die Prioritäten werden anders gesetzt.
Fehlt bei der Biodiversität der öffentliche Druck, der beim Klimaschutz inzwischen gross ist?
Der Stellenwert des Klimawandels erscheint in der Forschung und in der Politik immer noch grösser als bei der Biodiversität. Das mag auch damit zu tun haben, dass Politik und Wirtschaft inzwischen im Umgang mit dem Klimawandel neue Geschäftsfelder erkennen. Und es wird deutlich, dass die Wirtschaft deshalb nur durch entsprechende Innovation international konkurrenzfähig bleibt. Zum Beispiel im Energiesektor bei der Umstellung von fossilen Lösungen auf erneuerbare.
Es gibt aber auch attraktive Geschäftsfelder zugunsten der Biodiversität.
Sicher. Aber man sieht sie noch nicht so direkt. Ein gesunder Schutzwald ist wirkungsvoller und billiger als aufwendige Lawinenverbauungen. Mit Massnahmen für eine intakte und artenreiche Umwelt verbessert sich die Qualität der Luft, des Wassers und Bodens, Gesundheit und Lebensqualität nehmen ebenfalls zu.
Das nehmen wir aber in der wohlhabenden Schweiz nicht bewusst wahr.
Das ist das scheinbare Umweltparadox. Obwohl sich die Umweltbedingungen in den letzten Jahrzehnten verschlechtert haben, hat sich die Lebensqualität weltweit fast überall verbessert. Wir haben aber den Wohlstand, zum Beispiel bei der Lebensmittelproduktion, vom «Kapital» der Natur genommen, anstatt ihn nachhaltig auf den erneuerbaren «Zinsen» aufzubauen, die die Natur uns Jahr für Jahr liefern kann.
Ist das «Kapital» bereits aufgebraucht?
Es ist bereits viel davon aufgebraucht. Die Folgen spüren wir denn auch weltweit immer deutlicher. Wir haben in unserem Land schon jetzt den höchsten Anteil an gefährdeten Arten in Westeuropa. Ein klares Indiz, dass sich unser Land verändert hat. Und zusätzlich verursacht die Schweiz einen grossen Teil ihrer Umweltlast im Ausland. Insgesamt macht sich der Verlust der Biodiversität in der Schweiz aber noch weniger in der Lebensqualität bemerkbar als in Staaten, in denen die Menschen unmittelbarer von der lokalen Natur abhängen, etwa in solchen, die stark von der Fischerei leben.
Eigentlich scheint das Problem erkannt zu sein. Der Schutz der biologischen Vielfalt ist in der Bundesverfassung verankert. Und die Schweiz hat die internationale Biodiversitätskonvention ratifiziert.
Das stimmt. Aber die Politik setzt nach wie vor viel zu wenige finanzielle Mittel und politische Instrumente für einen sinnvollen Umgang mit der Biodiversität ein. Und sie richtet den Blick zu wenig auf das gesamte System. Nehmen wir etwa die Subventionspolitik in der Landwirtschaft oder im Verkehr. Man will ein Ziel erreichen, verletzt aber gleichzeitig drei Ziele in anderen Sektoren, etwa in der Biodiversitätspolitik. Deshalb müssen Subventionen und andere Massnahmen umfassend betrachtet und koordiniert werden, sodass der erwünschte Nutzen nicht durch unerwünschte Nebenwirkungen ins Gegenteil verkehrt wird.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir unser Ernährungssystem und die Landwirtschaft. Wir müssen uns umfassend überlegen, was wir an gesunden Lebensmitteln verbrauchen und wie wir diesen Konsum durch eine Mischung aus nachhaltiger Produktion in der Schweiz und im Ausland decken wollen. Dabei muss die Rolle der Bauern, Importeure, Exporteure, Grossverteiler und Verpflegungsbetriebe definiert werden. So kann die Politik geeignete Rahmenbedingungen unterstützen. Momentan stimmt dieses Zusammenspiel aber überhaupt nicht.
Was heisst das für die Umwelt und den Menschen?
Wir haben nach wie vor eine zu intensive Landnutzung mit zu grossem Stickstoffeintrag, die in der Schweiz und weltweit zum stärksten direkten Treiber des Biodiversitätsverlustes gehört. Und mit der Biodiversität gehen verschiedene Leistungen der Ökosysteme für den Menschen zurück. Das beeinträchtigt den Klimaschutz, den Schutz vor Naturgefahren und die Qualität von Grundwasser, Boden und Luft. Wir haben eben getrennte Politiken, darunter eine Landwirtschaftspolitik, aber keine umfassende Ökosystempolitik.
Dann brauchen wir auch eine grössere Fläche von Schutzgebieten?
Wir haben ermittelt, dass in der Schweiz gut 30 Prozent der Landesfläche geschützt oder extensiv bewirtschaftet werden müssten, um den Erhalt der Biodiversität und wichtiger Ökosystemleistungen in Zukunft zu gewährleisten.
Heute hat die Schweiz etwa 12,5 Prozent der Landesfläche für die Erhaltung der Biodiversität ausgeschieden.
Das ist viel zu wenig. Das international vorgegebene Ziel der Biodiversitätskonvention waren 17 Prozent an Schutzgebietsflächen bis 2020, in Zukunft wird dies voraussichtlich auf 30 Prozent erhöht werden. Schon im Hinblick auf Artenverschiebungen mit dem Klimawandel müsste das Netz an Schutzgebieten angepasst werden. Dazu braucht es sowohl eine Ausweitung als auch eine Vernetzung geschützter Flächen. Dies erfordert eine sorgfältige Koordination. Momentan erscheint schon allein unsere recht starre Raum- und Zonenplanung allerdings nur bedingt darauf vorbereitet. Um Schutzgebiete und nachhaltig genutzte Flächen sinnvoll auszuweiten, zu vernetzen und anzuordnen, könnte man etwa analog zum Finanzausgleich über einen Flächenquotenausgleich zwischen Kantonen oder auch Gemeinden nachdenken.
Wo würden Sie ansetzen, um in den nächsten Jahren die Biodiversität in der Schweiz besser zu schützen?
Wie gesagt, grossflächige Schutzgebiete müssen ausgeweitet und unterhalten, degradierte Flächen renaturiert werden. Biodiversität und die Leistungen der Ökosysteme müssen endlich umfassend in Zielsetzungen, Rahmenbedingungen, Steuerungsinstrumenten der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einfliessen. Ein zu enger Aktionsplan des Bundes für Biodiversität reicht dafür trotz einzelner guter Ansätze nicht.
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