Marlen Reusser und Stefan BisseggerDie goldenen Zeitfahrten von München
Die Bernerin und der Thurgauer werden in der deutschen Metropole Europameisterin und Europameister im Zeitfahren. Dabei waren die Vorzeichen für diese beiden Coups alles andere als gut.
Es war, als hätte sie nie Probleme gehabt. Als wäre sie nie verletzt gewesen. Stattdessen war an diesem Mittwoch in München eine Marlen Reusser zu sehen wie zu ihren besten Zeiten. Die Titelverteidigerin startete explosiv ins EM-Zeitfahren und überholte bereits kurz vor der Zwischenzeit bei 15,3 km die 1:30 Minuten vor ihr gestartete Lisa Brennauer. Reusser drückte weiter in die Pedale und musste im Ziel nach 24 km nur noch auf Ellen van Dijk warten, die letzte gestartete Fahrerin. Und als die niederländische Weltmeisterin sechs Sekunden zu langsam ins Ziel gekommen war und Reusser Gold gewonnen hatte, da zeigte die Bernerin – nicht die geringste Reaktion.
Ihr Funk war ausgefallen.
Das führte zur bizarren Szenerie, dass sich die alte, neue Europameisterin knapp zwei Minuten mit ratloser Miene im Zielraum bewegte, von ihrem Triumph gar nichts wusste. Das sollte sich ändern, doch Reussers Verwunderung blieb. «Ich bin erstaunt, dass es zu Gold gereicht hat», erklärte sie im TV-Interview, «ein Funk hat nicht funktioniert, und ich kannte meine Zwischenzeit nicht. Als ich Brennauer eingeholt hatte, dachte ich: So schlecht kann es nicht sein. Es war mental aber sicher das schwierigste Rennen.» Und dann vergass Reusser auch nicht, ihrem neuen Team SD Worx sowie dem Schweizer Verband zu danken, die für sie ein neues Zeitfahrvelo konzipiert hatten. Ganz fertig wurde es erst am letzten Wochenende.
Vor eineinhalb Monaten war ein Triumph noch undenkbar
Dabei hatte die 30-Jährige vor dem Zeitfahren selbst nicht gewusst, wo sie stand. Vor rund eineinhalb Monaten hatte sie bei einem Sturz in der Tour de France eine Gehirnerschütterung erlitten. Nur zwei Tage nach einem Solo-Sieg auf der 4. Etappe. Nach ihrem verletzungsbedingten Ausstieg war vorerst nicht an Radfahren zu denken. Reusser ermüdete rasch, und wenn sie sich anstrengte, litt sie an Kopfweh. Trainieren konnte sie nur auf einer Rolle in einem abgedunkelten Raum. Das EM-Zeitfahren war damals noch weit weg. Ein Triumph in München noch viel weiter.
Die steile Karriere von Reusser hat mit diesem jüngsten Coup ein weiteres Highlight erhalten. Ihre erste Radlizenz löste sie erst vor fünf Jahren, seit 2019 fährt sie bei den Profis. In dieser kurzen Zeit wurde sie bereits zweifache Europameisterin im Zeitfahren, gewann Olympiasilber im Zeitfahren 2020 sowie WM-Silber im gleichen Jahr und 2021.
Eine beachtliche Leistung im EM-Zeitfahren zeigte auch die zweite gestartete Schweizerin, Elena Hartmann. Die 32-jährige Bündnerin fuhr auf den 9. Rang. Hartmann, eigentlich Triathletin, setzt seit diesem Jahr vermehrt auf den Strassen-Radsport. Ende Juni wurde sie in Abwesenheit von Reusser Schweizer Meisterin im Zeitfahren.
Bissegger entthront Küng
Nach den Frauen standen die Männer im Einsatz. Sie fuhren auf dem gleichen Kurs, und es gab auch in diesem Rennen Gold für die Schweiz. Stefan Bissegger krönte sich in seiner Karriere zum ersten Mal zum Europameister im Zeitfahren. Der 23-jährige Thurgauer war 32 Hundertstel schneller als Stefan Küng, Titelverteidiger, Vornamensvetter und Kantonskollege. Weltmeister Filippo Ganna aus Italien gewann mit acht Sekunden Rückstand Bronze.
Die drei Medaillengewinner lieferten sich ein hochspannendes Rennen. Bei der Zwischenzeit waren sie nur durch knapp drei Sekunden getrennt. Mit Vorteil Küng. Ganna lag zu jenem Zeitpunkt noch zwischen den beiden Schweizern. Auf den letzten acht Kilometern bis ins Ziel fuhr Bissegger derart entfesselt, dass ihm der Triumph nicht mehr zu nehmen war. «Endlich hat es geklappt, dass ich zuoberst stehe», sagte der neue Zeitfahr-Europameister im TV-Interview. Und er entschuldigte sich beim Entthronten: «Es tut mir leid für Stefan Küng, dass es so knapp war.»
Für die zwei Schweizer sind die Medaillen speziell. Beide waren im Sommer Corona-positiv. Bissegger während der Tour de Suisse im Juni, Küng danach, kurz vor dem Start der Tour de France. Sie konnten beim bedeutendsten Radrennen der Welt dennoch starten. Dem neuen Europameister missrieten beide Zeitfahren. Beim Auftakt stürzte Bissegger mehrmals, beim Kampf gegen die Uhr am zweitletzten Tag kämpfte er mit Material- und Funkproblemen. Auch Küng kam damals nicht auf Touren. Als Folge der Covid-Erkrankung konnte er nur 90 Prozent seiner Leistung abrufen. Nun stehen beide wieder bei 100 Prozent.
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