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Pressefreiheit in der Türkei
Erdogan nimmt die letzten kritischen Stimmen ins Visier

Im 85-Millionen-Einwohner-Land Türkei greifen knapp 48 Millionen auf regierungstreue Medien zurück – aber 33,5 Millionen loggen sich inzwischen bei unabhängigen Digitalmedien ein, Tendenz steigend.
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Wenn der Vorwurf der «Fünften Kolonne» auftaucht, ist klar, dass mit brettharten Bandagen auf den Gegner eingeschlagen werden darf. Neuerdings macht die türkische Regierung von dem klangvollen Synonym für Spionage und Verrat Gebrauch. Wen sie meint? Die heimischen Medien.

Erdogan ist überall: Auslage von türkischen Zeitungen in der Hauptstadt am Tag nach der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni 2018.

Genauer, die regierungskritischen Medien. Von denen gibt es in der Türkei nicht mehr viele. Rund 90 Prozent der klassischen Zeitungen und Sender sind in der Hand des Staats oder gehören regierungsnahen Unternehmern. Damit wäre eigentlich alles im Lot für die zunehmend autoritärer auftretende Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Doch immer mehr Türken informieren sich lieber bei regierungskritischen Digitalplattformen als bei den staatlich frisierten Medien: Die Digitalredaktionen laufen den staatlichen Verlautbarungsorganen zunehmend den Rang ab. Und sie sind schwerer zu kontrollieren als klassische Analog-Redaktionen.

Erdogan gegen den Fake-News-Terror

Bisher jedenfalls. Fahrettin Altun, der einflussreiche Kommunikationsdirektor der Regierung, will «keine Aktivitäten einer fünften Kolonne in neuer Tarnung zulassen». Unabhängige oder oppositionelle türkische Journalisten müssen sich Sorgen machen, denn Altun will «neue Bestimmungen für Medien, die mit Unterstützung fremder Staaten oder ausländischer Institutionen arbeiten». Als angebliche «Fünfte Kolonne» also.

Und nicht nur Altun geht die letzten unabhängigen Medien des Landes an. In die selbe Kerbe schlägt der oberste türkische Radio- und Fernsehrat RTÜK. Ausländisch finanzierte Medien gefährdeten «die nationale Sicherheit». Dahinter stünden ausländische Kräfte, die dem Land «seine regionale Führungsrolle» neideten: «Leider sind die Medien eines der wichtigsten Instrumente derer, die der Türkei von ausserhalb schaden wollen.» Da ist sie wieder, die angebliche «Fünfte Kolonne».

Präsidiale Projektion: Erdogan leuchtet in Übergrösse auf dem Galataturm in Istanbul (15. Juli 2021).

Präsident Erdogan, auch er kein Freund kritischer Berichterstattung, wurde noch deutlicher: «Wir werden gegen den Fake-News-Terror vorgehen.»

Die Drohung hat Gründe. Die Regierung wirkt angeschlagen, verliert an Glaubwürdigkeit. Es sind nicht nur der fortschreitende Verfall der Rechtsstaatlichkeit und die massive Repression als vor allem die schlechte Wirtschaftslage, die den Meisterpopulisten Erdogan zunehmend die Unterstützung seiner konservativen Anhänger kostet.

Unabhängige Medien mit über 30 Millionen User

Das zeigt auch die Mediennutzung: Laut dem International Press-Institute greifen im 85-Millionen-Einwohnerland Türkei knapp 48 Millionen Nutzer auf regierungstreue Medien zurück – aber 33,5 Millionen loggen sich inzwischen bei unabhängigen Digitalmedien ein, die Tendenz ist steigend, die Inhalte werden zunehmend über Soziale Medien weiter verbreitet. Häuser wie Medyascope, Bianet, Diken, Duvar oder T24 haben meist ein höheres journalistisches Niveau als die Medien, die der Regierungslinie folgen, sei es der Staatssender TRT, die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu oder Blätter wie «Hürriyet» oder «Sabah».

Nadire Mater, Journalistin und Vorsitzende des Bianet-Stiftungsrats, sagt: «Soziale Medien sind längst eine Informationsquelle ersten Ranges». Maters Schlussfolgerung: «Die Regierung will keinerlei Form von Opposition erlauben, weil sie um die eigene Macht fürchtet.»

Eine neue Form staatlicher Zensur

Die Stossrichtung Erdogans ist klar: Vor einem knappen Jahr hat der Staatschef bereits die ausländischen Social-Media-Firmen in die Nähe von Fake-News und «Terrorismus» gerückt. Die Folge war ein Gesetz, dass Unternehmen wie Twitter, Facebook oder Youtube zwingt, sich türkischem Recht zu unterwerfen. Auf Anfrage müssen sie angebliche beleidigende oder unwahre Posts löschen: Es ist eine neue, leicht zu handhabende Form staatlicher Zensur.

Nun will der Präsident im Herbst ein weiteres Gesetz auf den Weg bringen; es soll die Finanzierung türkischer Medien durch ausländische Quellen strengster Kontrolle unterwerfen. Das richtet sich direkt gegen die regierungskritische Digitalmedien.

Viele der meist kleinen Redaktionen bekommen dank der ausgeklügelten Strategie eines Werbeboykotts durch die Regierung kaum staatliche Anzeigen. Und damit kein Geld. Sie sind zudem mit als Medienaufsicht verbrämten Zensurauflagen der Aufsichtsbehörden wie der Sender-Aufsicht RTÜK konfrontiert – bei TV-Sendern kann dies zum tagelangen Blackout führen.

Finanziert von «den Imperialisten»

Daher haben einige der bekanntesten unabhängigen Digitalmedien sich bei der EU, bei Stiftungen wie der US-Organisation Chrest oder der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung oder bei NGOs um Zuschüsse bemüht. Die Plattform Medyascope etwa weist sie in ihrem Online-Impressum aus. Jetzt aber tut die Regierungspresse so, als habe sie ein bestens gehütetes Geheimnis gelüftet und gezeigt, hinter welcher Tarnung sich die angebliche «Fünfte Kolonne» versteckt.

Und nationalistische Publizisten wie Sabahattin Önkibar oder der kemalistische Sender OdaTV springen mit reflexhaftem, typisch türkischem Anti-Amerikanismus auf den Zug auf. Sie werfen den betroffenen Medien vor, sich als «Agenten» von angeblich CIA-nahen Organisationen oder «den Imperialisten» finanzieren zu lassen.

Besonders im Auge haben sie dabei die christlich angehauchte Chrest Foundation. Gefördert werden von Chrest neben Medien auch Frauen- und Umweltprojekte und «eine gerechtere Gesellschaft». Die Aktivitäten der US-Stiftung konzentrieren sich laut ihrer Selbstdarstellung ausdrücklich auf die Türkei und die «Förderung des bürgerlichen Lebens» dort – was immer das heissen mag.