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Engpass bei Blutverdünner Marcoumar
50’000 Schweizer Herzpatienten fehlt zurzeit ein Medikament

Reportage aus der Herzklappenfabrik der Firma Edwards Lifesiences in Horw .
18.11.2015
(Tages-Anzeiger/Urs Jaudas)
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Seit gut drei Wochen ist das gängige Medikament Marcoumar in der Schweiz nicht mehr erhältlich. Es ist einer der Engpässe, die insbesondere niedergelassene Ärztinnen und Ärzte beschäftigt. «Die Situation ist zurzeit sehr schwierig», sagt Thomas Rosemann, Professor für Hausarztmedizin an der Universität Zürich. Innerhalb seines Qualitätszirkels würden die Praxen ihre Restbestände der Präparate austauschen, um über die Runden zu kommen. 

Der Gerinnungshemmer Marcoumar kommt vor allem bei Patientinnen und Patienten mit Vorhofflimmern oder künstlichen Herzklappen zum Einsatz und verhindert die Entstehung von gefährlichen Gerinnseln. Die Betroffenen nehmen das Medikament oft bereits seit vielen Jahren täglich, und es bestehen nur wenige Behandlungsalternativen. 

Marcoumar ist in der Schweiz das einzige Medikament mit dem Wirkstoff Phenprocoumon, der bereits in den 1950er-Jahren zugelassen wurde. Vertrieben wird es hierzulande vom amerikanischen Unternehmen Viatris. Bei der Schweizer Niederlassung macht man keine Angaben zu den Gründen für den Lieferengpass. Auf Anfrage hiess es lediglich, dass Marcoumar ab der ersten Oktoberhälfte wieder verfügbar sein werde, voraussichtlich ab der Woche 40. Ein Insider tönt an, dass Probleme beim Druck der korrekten Verpackungsbeschriftung hinter dem Lieferengpass stehen dürften. 

Niemand kennt die Gründe für den Engpass

In der Schweiz kennt sonst niemand die Gründe für den Lieferengpass, auch nicht beim Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL). Der Grund: Im Gegensatz zu Antibiotika oder gewissen Impfstoffen ist Marcoumar nicht meldepflichtig. Auch Pflichtlager bestehen deshalb nicht. «Uns ist die Störung seit Ende Mai bekannt, da wir durch die Leistungserbringer darauf aufmerksam gemacht wurden», sagt Sprecher Christoph Trösch. Anfangs sei nur die grosse 100er-Packung betroffen gewesen. Durch weitere Lieferschwierigkeiten sei nun auch die kleine Packungsgrösse (mit 25 Tabletten) nicht mehr erhältlich, so Trösch. «Wir sind mit der Firma und den medizinischen Fachgesellschaften daran, Empfehlungen zu erarbeiten.» 

Enea Martinelli, Chefapotheker der Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken (FMI), schätzt, dass in der Schweiz rund 50’000 Personen täglich Marcoumar nehmen. Für die Betroffenen und ihre Behandler ist die Situation schwierig. «Patientinnen und Patienten dürfen auf keinen Fall einfach für ein paar Tage auf das Medikament verzichten», sagt Raban Jeger, Kardiologie-Chefarzt beim Stadtspital Zürich. Es drohen dann gefährliche Gerinnsel, die zu Gefässverschlüssen in verschiedenen Organen, im schlimmsten Fall zu Herzinfarkt oder Schlaganfall führen können. 

Patienten mit mechanischen Herzklappen können nicht auf die üblichen Gerinnungshemmer ausweichen.

Heikel ist der Engpass insbesondere für Patienten mit mechanischen Herzklappen. Sie können nicht auf die heute üblicherweise verwendeten Gerinnungshemmer ausweichen, da diese bei ihnen nicht funktionieren. Diese direkte oder neue orale Antikoagulanzien (DOAK respektive NOAK) genannten Medikamente sind für andere Betroffene jedoch durchaus eine Alternative. Entsprechende Präparate heissen Xarelto (Rivaroxaban), Eliquis (Apixaban) oder Lixiana (Edoxaban).

«Eine Umstellung auf diese Medikamente muss jedoch gut begleitet werden», betont Kardiologe Jeger. Mithilfe von Blutanalysen muss der richtige Moment für den Wechsel gefunden werden. Denn die Gerinnungshemmung darf in der Umstellungsphase nicht zu hoch sein, weil sonst Blutungen drohen, insbesondere im Magen-Darm-Trakt, oder gar Hirnblutungen. Für die mit Marcoumar meist gut eingestellten, älteren Patienten ist das ein grosser Zusatzaufwand. «Eine sehr unangenehme Situation für Arzt und Patient», sagt Jeger. Er selbst sei glücklicherweise nicht betroffen, weil in seinem Spital noch genügend Marcoumar-Vorräte vorhanden seien. Niedergelassene Ärzte verfügen jedoch kaum über grosse Lager.

Einkauf in Apotheken in Deutschland

Jeger rät Patienten mit künstlicher Herzklappe und solchen, für die aus anderen Gründen keine Umstellung möglich ist, auf den Import aus Deutschland auszuweichen. Dort sei die Situation weniger problematisch, weil es verschiedene Präparate mit dem Wirkstoff Phenprocoumon gibt. «Man kann in Grenznähe in eine deutsche Apotheke gehen oder via Schweizer Apotheke in Deutschland bestellen», so Jeger. 

Und schliesslich besteht noch die Möglichkeit, das Medikament Sintrom (Wirkstoff Acenocoumarol) zu nehmen. Dieses ist vor allem in der Westschweiz verbreitet. FMI-Chefapotheker Martinelli befürchtet jedoch, dass auch dieses Präparat schnell nicht mehr verfügbar sein wird. «In der Schweiz wird Sintrom viermal weniger verwendet als Marcoumar», sagt Martinelli. «Ohne Koordination ist alles in Kürze aufgebraucht.»

Kosten im zweistelligen Millionenbereich

Der Pharmazeut geht auch davon aus, dass die Mangellage bei Marcoumar in der Schweiz zu einer beträchtlichen Kostensteigerung führen könnte. Denn das alte Medikament ist sehr billig: Eine Tagesdosis kostet rund 10 Rappen, bei neuen Gerinnungshemmern hingegen 2.50 Franken. «Wenn alle 50’000 Personen, die täglich Marcoumar nehmen, umstellen, entstehen dadurch Mehrkosten von 43 Millionen Franken», rechnet Martinelli vor. Zwar würden die bei Marcoumar nötigen regelmässigen Labormessungen wegfallen. «Unter dem Strich bleibt sicher ein zweistelliger Millionenbetrag», so Martinelli.  

Immerhin soll Marcoumar laut BWL künftig auf die Liste mit meldepflichtigen Wirkstoffen kommen. «Dies erlaubt zukünftig eine raschere Bearbeitung einer Störung und damit auch ein früheres Eingreifen in den Markt», so Trösch. Eine Lagerpflicht sei jedoch als nicht notwendig beurteilt worden.