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Eiskunstläufer Lukas Britschgi
Er wagt sich an Charlie Chaplin und Gebärdensprache – das Publikum liebt ihn dafür

Lukas Britschgi bei der Kür im Kurzprogramm des ISU Grand Prix im Eiskunstlauf in Helsinki, November 2024.
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In Kürze:
  • Der 26-jährige Lukas Britschgi integriert Gebärdensprache in sein neues Eiskunstlaufprogramm.
  • Sein Kurzprogramm zitiert Charlie Chaplins ikonischen Monolog gegen Diktaturen und Faschismus.
  • Britschgi will keine politische Botschaft aussenden, fordert aber mehr Gemeinsinn.
  • Wird es an der EM in Tallinn für Britschgi mit seiner introvertierten Performance zu einer Medaille reichen?

Lukas Britschgi verbrachte in den vergangenen Monaten mehr Zeit vor dem Spiegel als je zuvor in seinem Leben.

Unzählige Male hat er die Zeichenfolge geübt, bis er sie in Perfektion beherrschte: Daumen und Zeigefinger formen auf Kopfhöhe einen Kreis, die rechte Handfläche bewegt sich rund auf einer Ebene, dann der Fingerzeig nach unten, die Wischgeste – «Freiheit statt Unterdrückung!» Dieser Appell in Gebärdensprache ist das Kernthema seines neuen Kurzprogramms.

Der beste Eiskunstläufer der Schweiz führt die Bewegungen in Zeitlupe nochmals anschaulich vor. Dann lacht er und sagt: «Das war eine Büez! Wir haben uns die Sache mit den Zeichen definitiv einfacher vorgestellt.»

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Eben hat er ein zweistündiges Training absolviert. Jetzt sitzt Britschgi – grauer Kapuzenpullover, ungestylte Lockenfrisur, erfrischende Selbstironie – im Café der Eishalle in Frauenfeld. Er beginnt sofort zu erzählen, die Zeit ist knapp, der 26-jährige Schaffhauser auch neben dem Eis ständig auf dem Sprung.

In wenigen Tagen beginnt die EM in Estlands Hauptstadt Tallinn, anschliessend geht er mit der Eiskunstlaufgala «Art on Ice» in der Schweiz auf Tour. Hinzu kommen Medientermine, bei denen sein innovatives Kurzprogramm im Fokus steht.

Dass ein Eiskunstläufer – sei es in der Schweiz oder international – die Gebärdensprache als Ausdrucksmittel in seine Performance integriert, ist aussergewöhnlich.

Risiko statt «Schwanensee»

Die Idee zu diesem Projekt stammt von seinem Choreografen, dem Italiener Andrea Vaturi. «Ich selbst wäre nie darauf gekommen», sagt Britschgi und erzählt amüsiert, wie «blauäugig» sie das Vorhaben angegangen sind. Zunächst lassen sie sich auf Youtube inspirieren, stellen aber bald fest, dass es nicht eine einzige offizielle Gebärdensprache gibt, sondern unzählige Dialekte, ähnlich wie in der gesprochenen Sprache.

Vaturi zieht daraufhin eine Expertin bei, um gemeinsam ein Vokabular von etwa zwei Dutzend Begriffen zu erarbeiten, darunter «Einheit», «Würde» und «Hoffnung».

Die grösste Herausforderung besteht letztlich darin, die isolierten Zeichen nahtlos in die tänzerischen Bewegungen zu integrieren. «Es ist nicht alles perfekt», räumt Britschgi ein. «Aber ich gehe das Risiko bewusst und gern ein.» Genau für diese Bereitschaft liebt ihn das Publikum. Er wagt Neues, ist kreativ, ungewöhnlich und bereit, dafür viel Zeit und Geduld zu investieren. Er sagt: «Für das tausendste Mal ‹Schwanensee› bin ich definitiv der Falsche.»

Charlie Chaplins Mahnruf

Folgerichtig fällt die Musikwahl für sein aktuelles Kurzprogramm denn auch nicht auf einen klassischen Komponisten, sondern den gesellschaftskritischen Song «Iron Sky» des schottischen Sängers Paolo Nutini. Das Stück spielt im Mittelteil mit einer der berühmtesten Reden der Filmgeschichte.

Charlie Chaplins finaler Monolog in «The Great Dictator» aus dem Jahr 1940 liefert einen scharfen Kommentar zur politischen Situation seiner Zeit; insbesondere zur Diktatur Hitlers und zum Faschismus.

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Britschgi zitiert auf dem Eis mit seinen Gebärden den Mahnruf Chaplins gegen Unterdrückung und für Frieden, Solidarität und Menschlichkeit. Ausschnitte der Rede sind zusätzlich in verschiedenen Schriftsystemen auf sein Kostüm gedruckt; Kyrillisch steht neben Lateinisch, Chinesisch und Japanisch. Inklusion soll auf möglichst vielen Ebenen sichtbar sein.

Mit dem Verweis auf globale Konflikte und soziale Spannungen sagt Britschgi: «Chaplins Botschaft ist heute wieder von erschreckender Aktualität.»

Ist sein Kurzprogramm also als politisches Statement zu verstehen? Britschgi verneint, zögert kurz, sucht nach der richtigen Formulierung. Der Ausschluss russischer Läuferinnen und Läufer von der bevorstehenden EM verleiht dem Thema zusätzlich Brisanz. Schliesslich sagt er: «Wir Sportler müssen mit politischen Aussagen vorsichtig sein. Ich möchte die Plattform nicht missbrauchen, um jemanden zu beschuldigen.» Sein Auftritt richte sich nicht gegen einzelne Nationen, sondern sei eine grundsätzliche Aufforderung zu mehr Gemeinsinn und weniger Krieg auf der Welt.

Ein Eiskunstläufer in dunklem Kostüm mit roten Handschuhen führt während des ISU Grand Prix in Angers, Frankreich, eine Figur auf.

Britschgi hat sein Kurzprogramm diese Saison bereits an den Grands Prix in Frankreich und Finnland präsentiert, die Resonanz war durchweg positiv. Gerade die Integration der Gebärdensprache wurde explizit wertgeschätzt.

Auch Sarah van Berkel, ehemalige Eiskunstläuferin und Europameisterin von 2011, lobt Britschgis Auftritt als mutig und berührend. Sie selbst sorgte 2006 mit einem Hosenanzug anstelle des üblichen Rocks noch für einen Aufschrei in der Szene. Diese Zeiten seien zum Glück vorbei, sagt van Berkel. Der traditionelle Eiskunstlaufsport ist in den letzten Jahren offener geworden für neue Ideen.

Showman mit fehlenden Vierfachen

Trotzdem hätte sich Britschgi noch vor wenigen Saisons nicht aufs Eis gewagt mit einem so unkonventionellen Projekt. Bevor er 2023 an der EM in Finnland überraschend Bronze gewann, war der Eiskunstläufer aus der Ostschweiz ein «No-Name». «Wer hätte sich vor dieser Medaille schon dafür interessiert, was ich mache?»

Es ist eine rhetorische Frage. Ihm fehlte vor seinem Durchbruch im vorletzten Winter für ein Statement nicht nur das Selbstverständnis als Spitzenläufer, sondern auch schlichtweg das Standing. Wer mehr als flüchtig gesehen werden will, muss sich im Eiskunstlauf zuerst ein gewisses Ansehen erarbeiten.

Inzwischen hat Britschgi neben EM-Bronze auch einen sechsten und achten Platz an der WM, mehrere Spitzenplatzierungen in der Grand-Prix-Serie und fünf Schweizer-Meister-Titel vorzuweisen. Zwar ist seine Technik noch immer nicht die ausgefeilteste im internationalen Vergleich. Und aufgrund von Knieproblemen hat er weiterhin nur einen vierfachen Sprung im Repertoire. Gegenüber den Besten der Welt, die zwei oder drei Vierfache variieren, ist dies ein klares Defizit und fällt bei der Punktevergabe ins Gewicht.

Dafür hat Britschgi sonst keine wirklichen Schwächen und eine besondere Stärke: Er kann eine Show bieten, ist ein Entertainer, einer, der mit seiner Ausdruckskraft und Energie die Leute mitreisst.

Eisläufer bei der Show ’Art On Ice 2023’ in Schwarz gekleidet mit Lederjacke, Handschuhen und blauer Bühnenbeleuchtung.

Wie nun die andere, introvertierte Version von Lukas Britschgi beim Publikum und der Jury ankommt, zeigt sich am Donnerstag in Tallinn, wenn er mit seinem Kurzprogramm in die EM startet.

Alles muss zusammenpassen, wenn Britschgi seine zweite EM-Medaille gewinnen will. Er versucht, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben, weil er weiss, dass er unbeschwert besser funktioniert. Und trotzdem ist der Gedanke selbstredend da: «Die Medaille wäre ein Traum.»

Und mit welcher Gebärde würde er dessen Erfüllung feiern? Britschgi muss nicht lange überlegen: «Danke – dieses Wort habe ich bereits im Repertoire.»