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Analyse zum Truppenabzug aus Afghanistan
Eine Welt voller Afghanistans

Die US-Truppen packen zusammen: Auf der Militärbasis Bagram in Afghanistan verstauen Soldaten einen Helikopter in ein Transportflugzeug.
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Mit dem Abzug der USA aus Afghanistan endet eine Zeitrechnung in der Sicherheitspolitik. Was jedoch nicht endet, ist die Zeit der Unsicherheit und Bedrohung. Denn selbst wenn keine unmittelbare Terrorgefahr von afghanischem Boden ausgeht: Niemand wird behaupten, dass die Welt sicherer geworden ist seit dem 11. September 2001, als die Vereinigten Staaten und der Westen aus ihrem Scheinfrieden gerissen wurden, den sie nach dem Kalten Krieg gekauft hatten.

Aber jede Zeit kannte ihre Kriege und Bedrohungen. Das wird auch in Zukunft so sein. Was sich allerdings ändert, sind die Wahrnehmung dieser Kriege und die direkte Betroffenheit.

Afghanistan war in all seiner Geschichte keine ruhige Region. Das Goldene Zeitalter dauerte von 1963 bis 1978 – 15 Jahre, eine Verfassung, fünf Premierminister lang. Der Rest war Krieg und Gewalt – was für die USA und die Europäer erst 2001 zur Bedrohung wurde. Der 11. September und die damit begründeten Invasionen in Afghanistan und im Irak gerieten zur grossen Zäsur der westlichen Sicherheitspolitik.

Das Trauma der Verletzlichkeit

Mit der islamistisch motivierten Terrortat begann eine Phase der scheinbar globalen Allzuständigkeit und Verwundbarkeit vor allem der USA, es begann die Zeit der Interventionen in fernen Weltgegenden, der Anti-Terror-Kriege mit Drohnen und digitaler Komplettüberwachung. Das Trauma der Verletzlichkeit auf eigenem Boden im Augenblick unangefochtener Führung in der Welt hat Amerika nachhaltig verändert und seine Sicherheitspolitik bis heute geprägt. Der trumpsche Isolationismus und Joe Bidens aussenpolitische Zaghaftigkeit sind Beleg dafür.

Der organisierte islamistische Terror ist eine Form der Kriegsführung, die ein Land in seiner Stabilität und in seinem gesellschaftlichen Frieden bedroht. Dagegen darf sich eine Gesellschaft wehren.

Eigentlich musste man die Instabilität der Staaten bekämpfen

Freilich stellt sich die Frage nach Mitteln und Zielen eines Militäreinsatzes. Terrorkriege waren zur Jahrtausendwende eine neue Erscheinung. Statt eines Staates wurde eine verdeckt operierende, oft hierarchiefreie und gleichwohl mächtige Bewegung zur Kriegspartei. Al-Qaida oder der sogenannte Islamische Staat leben von der Instabilität ganzer Staaten. Wer sie bekämpfen will, muss die Instabilität bekämpfen. Das Dilemma: Wie soll man einen Staat gleichermassen mit militärischen und mit zivilen Mitteln aufbauen?

Afghanistan hat gelehrt, dass diese Anstrengung ihre Grenzen hat – dass sie aber auch belohnt werden kann. Natürlich ist die afghanische Gesellschaft offener, moderner und freier geworden. Kabul war 2001 ein Trümmermeer, die Provinz archaisch brutal. Selbst die Taliban scheinen verstanden zu haben, dass Terrorexport das sichere Mittel zur Rückkehr der fremden Mächte bedeutet. Was sich nicht geändert hat in Afghanistan, ist der Grundrhythmus, der das Leben bestimmt: die Rivalität paschtunischer Stämme, die ethnischen Konflikte, der Mangel an jedwedem republikanischen Bewusstsein.

Mit dem Abzug aus Afghanistan kann kein Anrecht auf Frieden eingefordert werden. Afghanistans gibt es überall, in Afrika, im Nahen Osten. Der islamistische Terror ist alles andere als zerschlagen. Und wer die Sahel-Region in Gewalt versinken lässt, der erhält die Quittung kurze Zeit später per Attentaten oder in der Zahl der Fluchtboote auf dem Mittelmeer.

«Sieg oder Niederlage?» ist die falsche Frage

Es ist also falsch, die Kategorie von Sieg oder Niederlage auf Afghanistan und die friedlose Welt insgesamt anzuwenden. Zwar bot Afghanistan Siege – sowohl für die UN-Truppen, die Aufbauhelfer, aber vor allem für die Zivilgesellschaft. Allerdings ist Afghanistan auch eine Aneinanderreihung von schweren Fehlern und Niederlagen. Ob es «die Sache wert» war oder ob dieser Einsatz am Ende «umsonst» gewesen sein könnte – das sind Kategorien, die sich dem afghanischen Zeit- und Stabilitätsbegriff entziehen. Sie setzen voraus, dass ein Zustand auf Dauer stabil ist, dass einmal geschaffene Errungenschaften bleiben. Sie zeugen von einem naiven Sicherheitsverständnis, das man sich in nur wenigen Ländern der Welt leisten kann.

Es wäre ein kleiner Gewinn für die Selbstgewissen im Westen, wenn diese Botschaft vom Einsatz am fernen Hindukusch hängen bliebe. Die Selbstgewissen in den USA haben einen hohen Preis bezahlt für die Kriegsjahre. Das Land hat seine Führungsrolle in der Welt verloren und einen gesellschaftlichen Konflikt geerntet, der viel mit der Frage zu tun hat, was die USA mit der Sicherheit der gesamten Welt anstreben und welchen Preis sie dafür zu zahlen bereit sind. Die Antwort auf die Frage bestimmt über die Sicherheit der nächsten Jahrzehnte. Afghanistan, so weiss man zwanzig Jahre später, verlässt niemand unbeschädigt.