HistorieMenschliche Hüllen
Im 19. Jahrhundert wurden manche Bücher in die Haut von Toten gebunden. Die amerikanische Bibliothekarin Megan Rosenbloom ist der Praxis nachgegangen.

George Walton hatte einen letzten Wunsch. Er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Mit jedem Husten, der ihm nun immer öfter den Brustkorb zusammenpresste, kam mittlerweile Blut aus seinen Lungen nach oben. Reue empfand er nicht. Walton hatte ein kurzes, aber bewegtes Leben geführt. Er hatte gestohlen, gehehlt, betrogen – aber am Ende seinen Frieden mit Gott gemacht. Ein Beichtvater war zwar nicht zu ihm gekommen ins Hospital des Staatsgefängnisses von Massachusetts, aber dafür hatte sich Charles Lincoln, der Gefängniswärter, zu ihm ans Bett gesetzt.
Ihm hatte der 28-jährige Walton seine Lebensgeschichte diktiert und Lincoln hatte sie auf 32 Seiten zu Papier gebracht. Auch seinen letzten Wunsch teilte der todkranke Sträfling dem Wärter mit. Er bat darum, dass der Gefängnisarzt ihm nach seinem Tod die Haut vom Rücken lösen möge – als Einband für das kleine Büchlein, das Lincoln noch im selben Jahr, 1837, mit den Memoiren würde drucken lassen.
George Walton ist der einzige bekannte Mensch, der seine Haut freiwillig als Bucheinband zur Verfügung stellte.
George Walton ist nicht der einzige Mensch, dessen Haut nach dem Tod zu einem Bucheinband wurde. Weltweit sind rund 50 nachweislich in Menschenhaut gebundene Bücher bekannt. Genug, um dieser besonderen Form der Buchbindekunst einen eigenen Namen zu geben: anthropodermische Bibliopegie, zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern für Mensch (anthropos), Haut (derma), Buch (biblion) und verfestigen (pegnynai). Allerdings ist George Walton der einzige bekannte Mensch, der seine Haut freiwillig als Bucheinband zur Verfügung stellte.
«Hic liber Waltonis cute compactus est» steht anstelle eines Titels auf dem Umschlag von Waltons Biografie: Dieses Buch ist in die Haut Waltons gebunden. Das Leder ist weich und hellgrau, wie Hirschleder.

Dass es sich aber tatsächlich um echte Menschenhaut handelt, konnten unlängst Forscher des Anthropodermic Book Projects nachweisen, eines multidisziplinären Teams von Wissenschaftlern, die weltweit diese raren Bücher aufspüren und auf Authentizität testen. Eine von ihnen ist Megan Rosenbloom, Bibliothekarin an der University of California in Los Angeles. Einen tiefen Einblick in die Arbeit der Buchjäger und -prüfer gibt sie in ihrem neu erschienen Buch «Dark Archives». Die in Menschenhaut gebundenen Bücher würden sich äusserlich gar nicht sonderlich von anderen antiken Werken im Bücherregal unterscheiden, schreibt sie darin: «Selbst wenn Sie jetzt gerade eines in der Hand halten würden, könnten Sie den Unterschied vermutlich gar nicht sehen.»
«Das oberste Gebot der Natur ist die Selbsterhaltung»
Was also bewegt Menschen dazu, gedruckte Werke in die Haut der eigenen Spezies zu binden? George Walton wollte sich vermutlich ein eigenes Denkmal setzen. «Das oberste Gebot der Natur ist die Selbsterhaltung», diktierte er hustend seinem Wärter. Er wollte, dass von ihm etwas übrig bleibt in dieser Welt. Eines der beiden gedruckten Exemplare seiner Biografie bekam der Arzt, der seine Anweisungen nach seinem Tod befolgte, als Lohn. Das zweite vermachte er John Fenno, den Walton einst überfallen hatte. Statt dem Banditen jedoch zitternd seine Geldbörse zu überlassen, hatte Fenno sich ihm entgegengestellt – und dieser Mut hatte Walton so tief beeindruckt, dass er ihm seine in Haut gebundenen Memoiren hinterliess.
In allen anderen bekannten Fällen ahnten die Hautspender nichts von ihrem Schicksal, oft ist nicht einmal ihr Name bekannt. Die meisten der Werke stammen aus dem 19. Jahrhundert, als es unter Buchliebhabern üblich wurde, Werke der eigenen Bibliothek durch einen neuen Einband aufzuwerten. Thematisch passt daher die Herkunft des Leders oft zum Inhalt. Allein drei Exemplare von Hans Holbeins «Totentanz» existieren mit einem Einband aus Menschenhaut. Das Buch thematisiert in 33 Holzschnitten die Präsenz des Todes inmitten des Lebens – die Hülle aus Totenhaut soll die düstere Botschaft des Werkes verstärken.
Vor allem Ärzte liessen Bücher, die ihnen wichtig erschienen, in Menschenhaut binden. Zum einen war es für sie einfacher, menschliche Haut zu beschaffen. Zum anderen schien ihnen offenbar besonders für anatomische Werke die aussergewöhnliche Wahl des Materials für den Einband zum Inhalt zu passen. Der Arzt und Forscher Joseph Leidy, der an der US-amerikanischen University of Pennsylvania Anatomie unterrichtete, wollte sein eigenes Werk, «An elementary treatise on human anatomy», mit einem Menschenhaut-Einband aufwerten. «Das Leder, in das dieses Buch gebunden ist, ist menschliche Haut von einem Soldaten, der während des grossen Aufstandes der Südstaaten verstarb», steht im Buch vermerkt. Der Tote war einer von Leidys Patienten, den der Anatom im amerikanischen Bürgerkrieg (1861 – 1865) behandelt hatte.

Leidy war jedoch nicht der einzige Professor an der University of Pennsylvania, der seine Bücher in Menschenhaut band. Mit dem Anatomieband befinden sich heute insgesamt fünf Bände im Besitz der Historisch-Medizinischen Bibliothek des College of Physicians of Philadelphia an der prestigeträchtigen Universität, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den führenden Ausbildungsstätten für angehende Mediziner zählte. Drei davon sind Werke zur Frauenanatomie und Fortpflanzungsmedizin aus der Sammlung von Leidys Kollegen John Stockton Hough.
Der hatte als junger 23-jähriger Arzt eine Patientin namens Mary Lynch betreut, die ursprünglich an Tuberkulose erkrankt war. An öffentlichen Krankenhäusern gab es damals keine Vollverpflegung, Patienten waren darauf angewiesen, dass mitleidige Verwandte ihnen Essen brachten. So versorgte auch die Familie der armen Witwe Lynch die Kranke mit Fleischbällchen aus Schweinehack. Was sie nicht ahnen konnten war, dass sie mit diesem Essen den Tod brachten: in Form des Fadenwurms Trichinella spiralis.
Als der Arzt den völlig ausgemergelten Körper auf dem Seziertisch liegen hatte und aufschnitt, wimmelten die Organe von Parasiten-Larven.
Als John Stockton Hough sechs Monate später den völlig ausgemergelten Körper der 28-jährigen Witwe auf dem Seziertisch liegen hatte und aufschnitt, wimmelten ihre Organe von den Larven des Parasiten. Der junge Arzt veröffentlichte 1869 eine detaillierte Beschreibung des Falls im American Journal of Medical Sciences. Ihre Haut aber war unversehrt. Hough schnitt ein grosses Stück davon aus einem ihrer Oberschenkel, bevor er den Leichnam zur Bestattung im Armengrab des Hospitals freigab. Zum Gerben legte er den grossen Hautlappen in einen Nachttopf.
Zwanzig Jahre lang bewahrte er anschliessend die Haut der irischen Witwe auf, bevor er drei Bücher zur weiblichen Fortpflanzung darin binden liess: «Speculations on the Mode and Appearances of Impregnation in the Human Female» sowie die beiden französischen Lehrwerke «Les Nouvelles Decouvertes sur Toutes les Parties Principales de L’Homme et de la Femme» und «Recueil des Secrets de Louyse Bourgeois». Ein weiteres Buch aus Houghs Bibliothek trägt einen Einband aus tätowierter Haut vom Handgelenk eines weiteren seiner Patienten.
Einen Vorwurf kann man dem Mediziner aus heutiger Sicht kaum machen. Zwar werden seine Patienten nicht ihre Zustimmung gegeben haben, jedoch hatten sie durch ihre Armut mit ihrem Tod nach damaligen Gepflogenheiten die Selbstbestimmung über ihren Körper verloren. Für Hough waren sie Studienobjekte, die ihm auf dem Seziertisch zu seiner wissenschaftlichen Forschung dienten. «Die Haut eines Toten war zum Abfallprodukt der Obduktion geworden», erklärt Megan Rosenbloom. Durch die Verwendung als Buchleder wurde dieses höchstens noch einmal aufgewertet. Im 20. Jahrhundert gehörte die merkwürdige Praxis schon längst der Vergangenheit an: «Es gab keine Menschenhautbücher mehr in dieser Zeit.»
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