Urteil im Fall Kyle RittenhouseEin Freispruch entzweit die USA
Kyle Rittenhouse hatte zwei «Black Lives Matter»-Protestierende erschossen – die Jury spricht ihn in allen Anklagepunkten frei.
Eines war nicht überraschend im Nachgang zum Verfahren gegen Kyle Rittenhouse: dass es nach Ende des Prozesses nur wenige Stunden dauerte, bis sich in Portland im Bundestaat Oregon eine Gruppe von veritabler Grösse zusammengefunden hatte, um gegen den Freispruch für den 18-Jährigen zu protestieren. Rittenhouse hatte im vergangenen Jahr, noch minderjährig, bei Protesten gegen Polizeigewalt und systemischen Rassismus in Kenosha im Bundesstaat Wisconsin zwei Menschen erschossen und einen weiteren verletzt.
Er war deshalb unter anderem wegen Mordes und versuchten Mordes angeklagt worden. Am Freitag hat eine Jury ihn in allen Anklagepunkten freigesprochen. Offenbar kam sie zu dem Schluss, Rittenhouse habe in Notwehr gehandelt, weil er geglaubt habe, sein Leben sei in Gefahr.
Ununterbrochen gehen Menschen auf die Strasse
Portland liegt zwar 2000 Meilen von Kenosha entfernt, doch wenn es ums Protestieren geht, macht der Stadt niemand etwas vor. Seit im Mai vergangenen Jahres der Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis von einem weissen Polizisten getötet wurde, wird in Portland mehr oder weniger ununterbrochen protestiert. Am Freitagabend gingen dabei mal wieder Scheiben zu Bruch. Zudem warfen manche Demonstrantinnen und Demonstranten Gegenstände auf die Polizei.
Friedlich blieben hingegen die Proteste in anderen Städten. In Chicago gingen am Samstagnachmittag rund 1000 Menschen auf die Strasse, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Zum Teil wurde dabei insinuiert, bei Rittenhouse handele es sich um einen «White Supremacist», also einen Menschen, der an die Überlegenheit der weissen Rasse glaubt. In New York und in Los Angeles wurde ebenfalls demonstriert.
Ein geteiltes Land
Insgesamt blieb es ruhig im Land. Der Gouverneur von Wisconsin hatte 500 Soldaten der Nationalgarde aktiviert für den Fall, dass es nach der Urteilsverkündung zu Ausschreitungen kommen sollte. In Kenosha hatten sich jedoch lediglich einige Dutzend Menschen vor dem Gericht eingefunden. Die Gruppe unterteilte sich zu etwa gleichen Teilen in jene, die den Freispruch begrüssten, und jene, die ihn ablehnten.
Diese Teilung war auch in den Medien zu beobachten. Konservative Sender lobten die Jury dafür, dass sie sich nicht habe unter Druck setzen lassen. Liberale Sender warnten, es sei ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen worden. Beim sehr konservativen Sender Fox News sagte der Kommentator Jesse Watters, der Gerechtigkeit sei Genüge getan worden: «Unser System funktioniert.» Er kam zu dem etwas überraschenden Schluss, das Urteil sei vor allem ein Schlag gegen die etablierten Medien.
Praktika für Rittenhouse
Beim sehr liberalen Sender MSNBC sprach die Kommentatorin Tiffany Cross hingegen von Rittenhouse als einem «kleinen, mörderischen White Supremacist» und gab ihrer Verachtung für republikanische Politiker Ausdruck, die ihre Unterstützung für Rittenhouse bekundet hatten. Zwei Kongressabgeordnete hatten in Aussicht gestellt, Rittenhouse ein Praktikum in ihren Washingtoner Büros anzubieten.
Der Fall hatte landesweit für Aufsehen gesorgt, weil wesentliche Fragen verhandelt wurden. Die offensichtliche: Kann es legal sein, dass ein 17-Jähriger mit einer halbautomatischen Waffe über die Strassen patrouilliert? Und schliesslich zwei Menschen erschiesst?
Recht auf Selbstverteidigung
Die Antwort lautet, so unsinnig das manch einem juristischen Laien erscheinen mag: In diesem Fall ist es legal, weil das Recht auf Selbstverteidigung in den meisten Bundesstaaten der USA extrem weit gefasst ist. Es reichte, dass Rittenhouse glaubhaft versichern konnte, er habe um sein Leben oder zumindest seine körperliche Unversehrtheit gefürchtet. In Anbetracht der Rechtslage hatte die Staatsanwaltschaft daher von Beginn an einen schweren Stand.
Die Proteste in Kenosha im August vergangenen Jahres waren teils gewalttätig. Demonstrantinnen und Demonstranten plünderten und zündeten Geschäfte an. Den Protestierenden standen bewaffnete Bürger gegenüber, die die Geschäfte schützen wollten. Die Stimmung war aufgeheizt und aggressiv. Vermutlich hätten unter diesen Umständen alle Beteiligten argumentieren können, dass sie um ihre körperliche Unversehrtheit fürchteten. Und wenn manche der Beteiligten bewaffnet sind, darunter ein 17-Jähriger, dann ist das Ergebnis nicht überraschend in einem Land wie den Vereinigten Staaten, in dem statistisch jede Einwohnerin und jeder Einwohner mehr als eine Schusswaffe besitzt.
«Keine Gerechtigkeit»
Auf Kyle Rittenhouse kommt jetzt einiges zu. Vermutlich wird man ihm einen lukrativen Buchvertrag anbieten, in konservativen Medien wird er als Held gefeiert. Die Angehörigen der von ihm getöteten Menschen teilten nach dem Urteil mit: «Heute gab es keine Gerechtigkeit für die Opfer.»
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