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Analyse zum Urteil im Fall Floyd
Angeklagter stand als Irrläufer da – und Polizisten brachen Schweigepakt

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Es sollte nichts Besonderes sein, dass ein Polizist wie Derek Chauvin für sein Verhalten zur Verantwortung gezogen wird. Niemand, der das Video vom grausamen Einsatz in Minneapolis gesehen hat, wird vergessen, wie der Afroamerikaner George Floyd unter Chauvins Knie nach Luft rang und um sein Leben flehte, mehr als neun Minuten lang. Es war exakt so, wie es US-Präsident Joe Biden in seiner Reaktion auf das Urteil sagte: ein Mord am helllichten Tag.

Und doch war nach dem Prozess alles andere als sicher, ob die Geschworenen dies auch so sehen würden. Zu oft schon hatte sich die Maschinerie der US-Justiz – von den Ermittlern bis zu den Geschworenen – in ähnlichen Fällen auf die Seite der Polizisten gestellt, zu oft schon hatte sie Polizeigewalt ungestraft gelassen. Meistens kam es nicht einmal zu einer Anklage. Die Angst besonders der Afroamerikaner vor einem neuen Unrecht war begründet.

Die Strategie der Anklage

Insofern ist das nun ergangene Urteil gegen Chauvin durchaus etwas Besonderes. Der Schuldspruch in allen drei Anklagepunkten ist ein dringend nötiges Zeichen an all jene Amerikaner, die den Glauben in die Justiz verloren hatten. Er ist eine Erleichterung für die Menschen in den Städten des Landes, die neue Ausschreitungen befürchten mussten. Und er ist hoffentlich ein Wendepunkt im Umgang der USA mit Polizeigewalt, von der schwarze Amerikaner seit vielen Jahrzehnten überproportional betroffen sind. (Lesen Sie hier: Die Reaktionen zum Urteil im Fall Floyd.)

Grosse Erleichterung: Familienmitglieder und Unterstützer von George Floyd feiern das Urteil in Minneapolis.

Der strukturelle Rassismus, den die «Black Lives Matter»-Bewegung zu Recht beklagt, war im Gerichtssaal kein Thema. Es ging beim Verfahren auch nie um die Kultur der US-Polizei, die Gewaltexzesse erst befördert. Stattdessen stellte die Anklage den inzwischen entlassenen Beamten Chauvin als Irrläufer und Abweichler dar. Das hat Polizeikritiker enttäuscht, doch aus Sicht der Staatsanwaltschaft ging die Strategie auf. Sie erlaubte es auch Geschworenen, die der Polizei vielleicht wohlwollend gegenüberstehen, Chauvins Verhalten zu sanktionieren.

Man kann sich durchaus fragen, wie das Urteil gelautet hätte, wenn die Bilder von der Tötung Floyds nicht so eindeutig gewesen wären.

Man kann sich durchaus fragen, wie das Urteil gelautet hätte, wenn die Bilder von der Tötung Floyds nicht so eindeutig gewesen wären – oder wenn es diese Bilder überhaupt nicht gegeben hätte. In der Medienmitteilung der Polizei von Minneapolis, die diese nach dem fatalen Einsatz im vergangenen Mai verschickt hatte, war bloss die Rede von einem «medizinischen Notfall» gewesen, den Floyd erlitten habe. Es waren die Videos von Passanten vom Tatort, die es der Anklage ermöglichten, solche und andere Vertuschungsversuche zu entlarven.

Doch Bilder hatte es auch schon bei früheren Fällen von Polizeigewalt gegeben. Die Aufnahmen von den Polizisten, die 1991 in Los Angeles auf den wehrlosen Schwarzen Rodney King einprügelten, verhinderten trotzdem nicht, dass die Beamten freigesprochen wurden. Auch die zahlreichen tödlichen Einsätze, die seither von gesetzlich vorgeschriebenen Körperkameras der Polizisten festgehalten wurden, führten kaum je zu einer Verurteilung.

Der Ruck in der Gesellschaft

Auch deshalb ist der Schuldspruch für Chauvin etwas Besonderes. Mit ein wenig Optimismus kann man im Urteil der Jury einen Sinneswandel erkennen, was die Beurteilung von Polizeigewalt gegenüber Schwarzen angeht – ein Sinneswandel, der sich nicht ohne den Ruck erklären lässt, der seit dem vergangenen Sommer durch weite Teile der amerikanischen Gesellschaft gegangen ist.

Im selben Licht kann man auch die Auftritte der zehn Polizisten lesen, die während des Verfahrens als Zeugen gegen Chauvin ausgesagt haben. Sie brachen damit einen Schweigepakt, der lautete: Kein Polizist belastet einen anderen.

Die USA werden im Umgang mit Polizeigewalt und Rassismus noch viele Rückschläge erleben, und für einen echten Wandel wird es noch viel brauchen. Aber ein echter Fortschritt: Das ist das Urteil in Minneapolis allemal.

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