Mikaela Shiffrins einzigartiger WegWie aus dem lustlosen Mädchen die grösste Skifahrerin der Geschichte wurde
Mit ihrem 86. Weltcupsieg egalisiert die Amerikanerin die 34 Jahre alte Marke von Ingemar Stenmark. Ihre Mutter hat sie früh auf Erfolg getrimmt – und ist bis heute an ihrer Seite.
Sie schlägt die Hände über ihrem Helm zusammen, hält sie vor ihr Gesicht, schüttelt den Kopf: Mikaela Shiffrin gewinnt den Riesenslalom von Are, es ist nicht irgendein Sieg. Es ist Nummer 86 – und damit die Egalisierung einer Fabelmarke, gesetzt eigentlich für die Ewigkeit vom wohl grössten Skirennfahrer der Geschichte, von Ingemar Stenmark, Dauersieger in den 1970er- und 80er-Jahren. 40 Slaloms und 46 Riesenslaloms hatte der Schwede gewonnen, ehe er kurz vor seinem 33. Geburtstag zurücktrat.
Einmal schon brachte eine Athletin den Rekord ins Wanken. Lindsey Vonn machte keinen Hehl daraus, dass sie vor allem weiterfährt, um diesen zu brechen und den eindrücklichsten Eintrag in die Geschichtsbücher zu schaffen. Ihr Körper setzte der Hatz im Februar 2019 ein Ende, nach 82 Siegen im Weltcup. Nun also ist es ausgerechnet ihre Landsfrau, der dieser ganz grosse Coup gelingt. Und das dürfte noch nicht einmal alles gewesen sein von der US-Amerikanerin, die zwar schon vor zwölf Jahren auf der grössten Ski-Bühne auftauchte – aber am Montag erst 28 wird. Ein sportlicher und ein menschlicher Rückblick auf ihren einmaligen Weg.
Die Kindheit
Zweijährig ist Mikaela Shiffrin, als sie ihr Vater Jeff ein erstes Mal auf Ski stellt. Der Arzt und einstige Skilehrer wird zusammen mit seiner Frau Eileen, einer Hobby-Rennfahrerin, zum grossen Förderer seiner Tochter und seines Sohnes Taylor, der zweieinhalb Jahre älter ist als Mikaela. Besonders Mutter Eileen widmet sich der Freizeitbeschäftigung ihrer Kinder mit Akribie, sie liest Bücher über den Skisport, studiert die Fahrten von Janica Kostelic, Anja Pärson oder Marlies Schild, den Weltbesten.
Die Shiffrins lehren Mikaela und Taylor, die Arme in der richtigen Position zu halten, zentral über dem Ski zu stehen, schöne Kurven zu ziehen. Die Pisten in Vail sind bald zu wenig anspruchsvoll, die Familie zieht nach Vermont, wo die Unterlagen ruppiger und eisiger sind. Mikaela wird von Kirk Dwyer entdeckt und trainiert, dem Leiter des örtlichen Ski-Internats, da ist sie 12. Für diese Schule allerdings ist sie zu jung. Bald zieht die Familie ohnehin zurück nach Colorado, da ist Mikaela 14.
Sohn Taylor hört bald auf mit dem Skisport, studiert an der Universität in Denver. Und auch Mikaela Shiffrins junge Ski-Karriere endet beinahe. Das Mädchen vermisst in Vermont seine Freunde, der weiche Schnee langweilt Shiffrin, in der Schule ist sie lustlos, sie schläft zu viel. Noch im gleichen Jahr zieht Mutter Eileen die Notbremse, schreibt ihre Tochter an der Dwyers Burke Mountain Academy ein und zieht in eine Wohnung unweit der Schule, von der aus Mikaela bald die Ski-Welt erobert.
Der erste Triumph
20. Dezember 2012, ein Rennen unter Flutlicht im schwedischen Are. Und sie tritt ins Rampenlicht: Mikaela Shiffrin, 17, lässt die einheimische Frida Hansdotter und Überfliegerin Tina Maze hinter sich und sagt: «Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk für mich. Ich habe im zweiten Lauf einfach versucht zu fliegen.» Noch im gleichen Winter fliegt sie zu drei weiteren Siegen und innerhalb von rund 10 Jahren zum Fabelrekord.
Siege in allen Disziplinen
52 Slaloms, 20 Riesenslaloms, je 5 Super-G und Parallelrennen, drei Abfahrten und eine Kombination hat Shiffrin gewonnen, neben Anja Pärson hat nur sie in sämtlichen sechs Disziplinen reüssiert. Die 52 Triumphe in ein- und derselben Disziplin sind unangefochtener Rekord, da kann nicht einmal Stenmark (46) mithalten. Der nur eine Erfolg in der Kombination, herausgefahren 2017 in Crans-Montana, wirkt sonderbar für die mit Abstand kompletteste Skifahrerin, erklärt sich aber mit deren Prioritätensetzung: Gerade mal drei Zweiteiler hat Shiffrin im Weltcup bestritten.
Die Beziehung zur Mutter
Eileen Shiffrin ist lange wie ein Schatten ihrer Tochter. Böse Zungen sagen früh, Mikaela könne nicht einmal allein auf die Toilette. Bei Gesprächen mit Journalisten sitzt sie daneben, hört mit, redet mit, ist Schutzschild für ihre Tochter, auch gegenüber aufdringlichen Fans. Schliesslich ist Mikaela noch keine 16, als sie im März 2011 auf die Weltcup-Bühne tritt. Sie braucht den Halt der Familie, auch ihr Vater Jeff ist oft dabei. In einem Interview mit dieser Zeitung in der Schweiz sagt sie einmal: «Als ich hier in Neuenburg spazieren ging, war zwar mein Freund dabei (damals der Franzose Mathieu Faivre), ich dachte aber immer nur: Es wäre schön, wäre meine Mutter hier, sie liebt es doch so sehr, neue Städte anzuschauen. Sie war die, die ich am liebsten bei mir haben wollte.»
Ab und zu versucht es Shiffrin ohne familiären Beistand, es bleiben Ausnahmen. Meistens steht die Mutter im Zielraum und klatscht ihrer Tochter zu. Auch an diesem geschichtsträchtigen Freitag steht sie im Ziel von Are und umarmt ihre Tochter innig. Mit ihrer Detailversessenheit hat sie ihr den Weg in den Ski-Himmel ermöglicht. Sie sei nie gedrängt worden, wiederholt Mikaela Shiffrin immer wieder, es habe zu Hause einfach geheissen: «Wenn du etwas machst, dann richtig.»
So war das auch beim Tennis. Sie habe in ihrem Leben wohl keinen einzigen Match gespielt, sagt sie im erwähnten Interview: «Wir machten Drills, nur Drills. Schlagen mit der Vorhand, immer und immer wieder, 30 Minuten lang, schlagen mit der Rückhand, 30 Minuten, dann über dem Kopf, dann aufschlagen, noch und noch.» In allem strebten sie nach Perfektion. Erreichte sie diese auf Ski in Aspen?
In einer eigenen Liga
Spätestens Ende November 2015 sorgt Shiffrin bei der Konkurrenz für kollektives Entsetzen. Daheim in Aspen gewinnt sie mit 3,07 Sekunden Vorsprung – nie hat jemand einen Slalom mit solch grosser Reserve für sich entschieden. Tags darauf beträgt der Abstand zur Zweiten 2,65 Sekunden. Die Amerikanerin ist in jener Phase nicht eine oder zwei, sondern vielmehr drei Klassen besser als der Rest. 19-mal hat sie einen Slalom mit mehr als einer Sekunde Differenz gewonnen. Was natürlich Rekord bedeutet.
Der Rekordwinter
Shiffrin, Shiffrin, Shiffrin. Und nochmals Shiffrin. Im Winter 2018/19 dominiert sie nach Belieben, entscheidet 17 Rennen für sich und bricht die Bestmarke von Vreni Schneider aus der Saison 1988/89 (14). Mit 886’386 Franken stellt sie dabei einen haushohen Preisgeldrekord auf. Über die ganze Karriere hinweg hat Shiffrin mehr als jedes dritte Rennen gewonnen!
Der Schicksalsschlag
Der 2. Februar 2020 reisst Mikaela Shiffrin aus ihrem gewohnten Leben. Im Haus in Colorado ist ihr Vater Jeff verunfallt, er liegt mit Kopfverletzungen im Spital. Shiffrin hat einen Super-G in Bansko gewonnen, als sie die Nachricht ereilt. Sie fliegt in die Heimat, wo sie am Sterbebett mit Bruder Taylor und Mutter Eileen die letzten Atemzüge des 65-Jährigen erlebt. Am Tag danach schreibt sie: «Er war unser Berg, unser Ozean, unser Sonnenaufgang, unser Herz, unsere Seele, unser alles.» Dann wird es still um die kommunikative junge Frau, ihre Kanäle in den sozialen Medien bleiben leer.
Shiffrin leidet, schläft wieder bei der Mutter im Bett. Irgendwann ist zu hören, sie wolle im März in Are zurückkehren, das Coronavirus verhindert das Comeback. Als sie im November 2020 in Levi wieder ein Rennen fährt, beendet sie eine Pause von 300 Tagen. Sie sagt: «Ich bin emotional müde und immer noch sehr wütend. Wütend, weil mein Vater gestorben ist. Wütend, weil ich mich an den meisten Tagen allein fühle.» Das ändert sich bald. Dank eines rasenden Norwegers.
Das Ski-Traumpaar
Im Frühjahr 2021 treten sie an die Öffentlichkeit: Mikaela Shiffrin und Aleksander Kilde, die quirlige Amerikanerin und der stoische Norweger mit den vielen Muskeln, sind ein Paar. Es ist das Ski-Traumpaar schlechthin. Gegenseitig profitieren sie voneinander, sportlich und menschlich, so sagen sie es. Kilde ist für Shiffrin ein Fels in der Brandung, wenn sie wieder einmal die dunklen Gedanken heimsuchen.
Bei einem Gespräch mit dieser Zeitung in Lake Louise im letzten Winter sagt der derzeit beste Abfahrer: «Wir reden ab und zu über den dramatischen Unfall ihres Vaters, er begleitet uns stets. Und er wird auch immer da sein. Aber mir ist wichtig, dass sie auch glücklich sein kann, dass sie lachen kann, ein gutes Leben hat. Aber wenn sie dann an ihren Vater denkt, ist das ganz normal; will sie darüber sprechen, möchte ich ihr einfach eine so gute Unterstützung wie möglich sein.» Auch dank Kilde ist Shiffrin dort angelangt, wo sie jetzt ist: im Olymp des Skirennsports. Zum Leidwesen auch der Schweizerinnen.
Die Schweiz um 16 Siege gebracht
Wenn nur diese Shiffrin nicht wäre. 12-mal ist Wendy Holdener im Weltcup hinter der Überfliegerin Zweite geworden (Stand: 10. März 2023), sie konnte so schnell sein, wie sie wollte, die Amerikanerin fand jeweils noch einen direkteren Weg durch den Slalomkurs. Mal souverän, mal weniger überzeugend lächelte die Schwyzerin die entsprechenden Fragen weg, die Vergleiche schienen sie zwischenzeitlich zu zermürben.
Auch Lara Gut-Behrami ist viermal nur von Shiffrin bezwungen worden, im Januar im Riesenslalom von Kronplatz nach scheinbar perfekter Fahrt. Noch heftiger traf Shiffrins Übermacht die Slowakinnen: Gleich 23 Siege wurden ihnen weggeschnappt, allein 15 davon Petra Vlhova. Schweden folgt als hadernde Nation Nummer 3 (13 zweite Plätze hinter der Amerikanerin).
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