Drohungen gegen NachbarlandDonald Trump schreckt Kanadier kurz vor der Wahl erneut auf
Die Kanadier waren der Regierung von Justin Trudeau müde. Überraschend dürfte aber seine Liberale Partei die Parlamentswahlen vom Montag gewinnen. Wegen Donald Trump.

- Mark Carney führt die Liberale Partei nach einem überraschenden Stimmungsumschwung zur Parlamentswahl.
- Trumps aggressive Äusserungen gegen Kanada stärken die Position der Liberalen Regierung.
- Die Umfragen prognostizieren einen Vorsprung von vier Prozentpunkten für die Liberalen.
- Eine Rekordbeteiligung zeichnet sich bei der morgigen Parlamentswahl deutlich ab.
Donald Trump hat die Welt mit allerlei mehr oder weniger Unerwartetem beglückt. Wahrlich niemand aber hatte vorhergesehen, dass der US-Präsident sich als wirkungsvollster Wahlhelfer der linken Regierungspartei von Kanada betätigen würde. Es ist die Partei seines Erzfeinds Justin Trudeau, des langjährigen Premiers, dessen die Kanadier mehr als überdrüssig waren.
Wie in so vielen anderen Ländern sehnten sich die 40 Millionen Kanadier nach einer neuen Führung, wegen der Fliehkräfte der Covidpandemie, hoher Teuerung, schleppenden Wirtschaftswachstums und zunehmender Einwanderung. Jahrelang lag die Liberale Partei von Trudeau in Umfragen weit abgeschlagen hinter den Konservativen zurück. Nun aber, da die 28 Millionen Wahlberechtigten am Montag ein neues Parlament und damit indirekt eine neue Regierung bestimmen, deuten sämtliche Umfragen auf einen sicheren Sieg der Liberalen Partei hin.
Das hat die Mitte-links-Partei einem Führungswechsel zu verdanken – und eben Donald Trump, der ständig davon redet, das Kanada als 51. Staat in die USA integrieren zu wollen, und es mit hohen Strafzöllen bedrohte. Trudeau kündigte im Januar seinen Rücktritt an, im März wählte die Partei den früheren Zentralbanker Mark Carney an ihre Spitze und damit zum neuen Premierminister bis zu den Wahlen. Seither sind die Werte der Liberalen Partei im Rekordtempo in die Höhe geschnellt, weil sich die Kanadier angesichts der Angriffe aus Washington hinter ihre Regierung stellen.

Noch rasanter als der Aufstieg der Liberalen von Kanada war nur der Aufstieg der Freiheitsbewegung in Slowenien, wie der britische «Economist» in einer Analyse moderner Demokratien eruierte. Das vierte Mal in Folge dürften damit am Montag die Liberalen den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten. Dem 60 Jahre alten Mark Carney, dem ehemaligen Zentralbanker von Kanada und später von England, scheinen die Kanadier am ehesten zuzutrauen, das Land gegen Trump zu verteidigen. Eher offenbar als Pierre Poilievre, dem 45 Jahre alten Anführer der Konservativen Partei, Berufspolitiker seit 20 Jahren.
Mark Carney und die Liberalen führen mit 42 Prozent
Voraussichtlich wird Carney sogar eine Mehrheit im Parlament im Rücken haben, nachdem Trudeau seit 2019 nur noch mit einer Minderheit regiert hatte. In den Modellen des «Economist» gewinnen die Liberalen in 86 von 100 Fällen am meisten Sitze im House of Commons. Ähnlich deutlich fallen die Berechnungen des britischen Umfrageinstituts Yougov und der Umfrage-Tracker des öffentlichen Rundfunks CBC aus.

Die Liberalen führen in den Umfragen mit 42 Prozent vor den Konservativen mit 38 Prozent. Der Unterschied scheint nicht riesig zu sein, aber er dürfte sich im kanadischen Wahlsystem sehr stark auswirken. Die konservativen Stimmen sind im ganzen Land verzettelt, Bezirke mit konservativer Mehrheit befinden sich vor allem im weniger dicht besiedelten Westen des Landes. In den Wahlkreisen in bevölkerungsreichen östlichen Provinzen hingegen können sich die Liberalen oft durchsetzen, wenn auch bisweilen nur knapp.
Weil die relative Mehrheit für den Sitzgewinn reicht, dürften die Liberalen den Umfragevorsprung von 4 Prozentpunkten in eine klare Mehrheit der 343 Mandate in der grossen Parlamentskammer übersetzen. Zudem sind die anderen relevanten Parteien, die sozialdemokratische NDP und der Bloc Québécois, in der Wählergunst abgesackt, der Grünen Partei droht der Totalabsturz – weitere Faktoren, die zu einer klaren Regierungsmehrheit beitragen dürften.
Donald Trump sprach von «sehr netten Unterhaltungen»
Im Wahlkampf waren die Teuerung, die Einwanderung und Arbeitsplätze die wichtigsten Themen. Am letzten Kampagnenwochenende rückten Verbrechen in den Vordergrund, nachdem ein Mann mit einem Geländewagen bei einem Filipino-Festival in Vancouver in eine Menschenmenge gefahren war. Mindestens neun Menschen starben. Die Polizei schloss einen Terroranschlag aus. Mark Carney sagte Wahlkampfauftritte im Osten ab; später wollte er nach Vancouver in British Columbia reisen.
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Prägend für den Wahlkampf war die Reaktion auf Trump. Sowohl Carney als auch Poilievre wollen der Wirtschaft Wachstumsimpulse verleihen, indem sie neue Absatzmärkte in Europa und im Pazifikraum erschliessen. Beide haben auch eine Reform von Trudeaus unbeliebter Klimasteuer versprochen. Carney will sie nur noch für Unternehmen aufrechterhalten, Poilievre sowohl für Privathaushalte als auch für die Wirtschaft abschaffen.
Es scheint so gut wie sicher, dass Mark Carney sich mit den Drohungen von Donald Trump herumschlagen muss, denen er seine Wahl verdanken wird. Nachdem die beiden Ende März telefoniert hatten, äusserte sich der US-Präsident überraschend positiv über seinen kanadischen Gegenpart. Während er Trudeau nur noch «Gouverneur» genannt hatte, bezeichnete er Carney korrekterweise als Premierminister und redete von «sehr netten Unterhaltungen».
Doch kurz vor dem Wahltag schreckte der US-Präsident die Kanadier von neuem auf. In einem Interview mit «Time» sagte er, die USA wollten keine Autos aus kanadischen Fabriken, sie wollten weder Bauholz noch Öl und Gas aus Kanada einführen. «Wir brauchen nichts aus Kanada», sagte Trump. «Der einzige Weg, wie es für Kanada wirklich funktioniert, ist, ein US-Staat zu werden.»
Endresultate aus Kanada gibt es am Dienstagmorgen
Nun fühlen sich die Kanadier bestätigt in ihrer Furcht vor einem Horrorszenario: Der grosse Nachbar und Abnehmer von 76 Prozent der Exporte schottet sich mit Strafzöllen ab und reisst die kanadische Wirtschaft in den Abgrund. Das könnte es den USA ermöglichen, sich das bedrängte Riesenland mit seinen immensen Rohstoffvorräten einzuverleiben. Plötzlich kursieren wieder Anekdoten aus dem Krieg von 1812, als die jungen USA versuchten, ihr Territorium nach Norden zu erweitern, in die damalige britische Kolonie. In das heutige Kanada.
Bei der Wahl vom Montag zeichnet sich eine Rekordbeteiligung ab, mehr als 7 Millionen Kanadier haben ihre Stimme bereits abgegeben. Am Montag öffnen die Lokale um 9 Uhr und schliessen um 21.30 Uhr Ortszeit. Erste Tendenzen von der Ostküste Kanadas sind in Europa in der Nacht auf Dienstag zu erwarten. Die Endresultate dürften kurz nach Schliessung der Urnen an der Westküste vorliegen, am Dienstagmorgen ab 6.30 Uhr europäischer Zeit.
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