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Meinung

Kommentar zu milden Strafen für Sexualstraftäter 
Dieses unbegreifliche Verständnis für Vergewaltiger 

Das Opfer wird womöglich ein Leben lang von der Tat verfolgt, der Täter verbringt nicht einmal einen einzigen Tag im Gefängnis: Realität für viele Vergewaltigungsopfer in der Schweiz. 
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Drei junge Männer laden im Sommer 2021 eine junge Frau zu einer Spritzfahrt ein. Danach zeigt sie die drei wegen sexuellen Missbrauchs an. Dass sexuelle Handlungen stattgefunden hatten, bestreiten die Männer nicht. Sie behaupten aber, diese seien einvernehmlich gewesen. 

Am vergangenen Montag hat das Bezirksgericht Zürich über den sogenannten Autoposer-Fall geurteilt. Der Fahrer ging straffrei aus. Der zweite Mann, der die Frau bedrängt und ihr in die Unterhose gefasst hatte, muss wegen sexueller Belästigung 1000 Franken Busse, der dritte dem Opfer 15’000 Franken Genugtuung zahlen. Er wurde der Vergewaltigung schuldig gesprochen – und erhielt dafür 22 Monate bedingt. Vom geforderten Landesverweis wurde beim nordmazedonischen Haupttäter abgesehen, da es sich um einen «Härtefall» handle.

Weshalb sollten Vergewaltigungsopfer Anzeige erstatten?

Gemäss NZZ begründete das Gericht das milde Urteil damit, dass der Täter «keine übermässige Gewalt angewendet» habe, die Tat spontan und nicht geplant gewesen sei und diese auch nicht lange gedauert habe. Auf Anfrage bestätigt das Zürcher Bezirksgericht die Begründung, weitere Fragen zum Fall wollte es nicht beantworten.

Wie sich die junge Frau fühlte, als ihr Vergewaltiger mit Auflage in die Freiheit entlassen wurde, möchte man sich nicht vorstellen. Auch nicht, was die Erklärung für die bedingte Strafe in ihr auslöste. Die Dauer der Tat mag juristisch eine Rolle spielen, aber wenn sich ein Vergewaltigungsopfer einen derart lapidaren und empathielosen Satz anhören muss («es hat nicht lange gedauert»), bestätigt das auf fatale Weise, was viele Frauen ohnehin denken: dass es sich nicht lohnt, eine Vergewaltigung anzuzeigen. 

«Es ist, wie wenn ausgerechnet bei der schwersten Form der sexuellen Gewalt die Sensibilisierung durch #MeToo nie stattgefunden hätte.»

Warum sollte man sich stundenlange, quälende Befragungen bei Polizei und Staatsanwaltschaft antun, sich auf ein langwieriges Verfahren einlassen und hohe Kosten für die rechtliche Vertretung aufwenden, wenn man am Ende vom Gericht gesagt bekommt, es sei zwar eine Vergewaltigung gewesen, aber sorry, das Martyrium hat zu wenig lange gedauert, deshalb gehört der Täter nicht ins Gefängnis? Sind sich die Gerichte bewusst, dass bei einer Vergewaltigung nicht die Minuten der Tat die schlimmsten sein müssen, sondern dass Opfer vielmehr ein ganzes Leben lang davon verfolgt werden können? Währenddessen verbringt der, der daran schuld ist, nicht einmal einen einzigen Tag im Gefängnis. 

Ein Drittel aller verurteilten Vergewaltiger muss keinen einzigen Tag ins Gefängnis

In einer Zeit, in der fehlende Sternchen in einem Text zu Verletzungen führen und bestimmte Wörter traumatisierend sein sollen, wird ausgerechnet eine Tat, die wirklich schwer verletzt und traumatisiert, immer noch grotesk bagatellisiert. Es ist, wie wenn ausgerechnet bei der schwersten Form der sexuellen Gewalt die Sensibilisierung durch #MeToo nie stattgefunden hätte. 

Denn das Urteil im Autoposer-Fall ist keine Ausnahme. Ein Drittel aller wegen Vergewaltigung verurteilten Täter – die also eine schwere Gewalttat begangen haben – müssen nicht ins Gefängnis, sondern erhalten eine bedingte Strafe. 

Gerichte nutzen Strafrahmen nicht aus

Das Problem liegt aber nicht beim Gesetz. Denn das bietet einen Strafrahmen von bis zu zehn Jahren an. Das Problem liegt bei den Gerichten, die diese Möglichkeit nicht nutzen, sondern es vorziehen, im untersten Bereich der Strafzumessung zu bleiben. 

Der Berner Strafrechtsprofessor Martino Mona kritisiert diese Praxis seit Jahren. Er sagt, es sei auch politisch gewollt, Gefängnisstrafen möglichst zu vermeiden: «Die einen rechnen sich aus, dass sie selbst vom System der bedingten Strafe profitieren können, sollten sie mal vor dem Strafrichter stehen. Den anderen gilt das Strafen ohnehin als barbarisch und gestrig.» 

«Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan forderte gar die Einführung von Geldstrafen für Vergewaltiger. Weil man ja wisse, dass Freiheitsstrafen nicht abschreckend wirkten.»

Gerade in linken Kreisen hält man meist wenig vom herkömmlichen Bestrafungsprinzip. Nur so ist es zu erklären, dass die Revision des Sexualstrafrechts bislang nicht dazu genutzt wurde, um die bedingten Strafen bei Vergewaltigungen abzuschaffen. Im Gegenteil – Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan forderte gar die Einführung von Geldstrafen für Vergewaltiger. Weil man ja wisse, dass Freiheitsstrafen nicht abschreckend wirkten. 

Bestrafung spiegelt gesellschaftliche Missbilligung wider 

Der Irrglaube, das Strafrecht diene der Abschreckung, hält sich hartnäckig. Dabei hat man diesen Ansatz längst aufgegeben. Das Strafrecht dient vor allem der Vergeltung, es herrscht ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass Täter zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Deren Bestrafung soll widerspiegeln, wie sehr die Gesellschaft die Tat missbilligt – wobei die Gleichung einfach ist: je grösser die allgemeine Abscheu, desto höher die Strafe.  

«Wenn Frauen ahnen, dass die ihnen angetane Gewalt bagatellisiert wird, werden sie sich zu Recht hüten, Anzeige zu erstatten.» 

Ein beliebtes Argument für die bedingten Strafen bei Sexualdelikten lautet, viele Opfer wollten gar nicht, dass der Täter bestraft werde, sie wollten bloss gehört werden. Das mag in Einzelfällen zutreffen. Es ändert aber nichts daran, dass bedingte Strafen eine Tat bagatellisieren. Und wenn Frauen ahnen, dass die ihnen angetane Gewalt bagatellisiert wird, werden sie sich zu Recht hüten, Anzeige zu erstatten. 

Auch die neue Nur-Ja-heisst-Ja-Regel ändert daran nichts. Sie wird als Meilenstein gefeiert, aber die Verschärfung verpufft, wenn die aktuelle Gerichtspraxis beibehalten wird.

Opfer werden nochmals Opfer, beim zweiten Mal vom Staat

Es kann nicht sein, dass vergewaltigten Frauen von allen Seiten empfohlen wird, Anzeige zu erstatten, aber Opferhilfeorganisationen häufig genau davon abraten – im Wissen darum, wie niederschmetternd die Urteile ausfallen können. 

Denn wagen die Frauen es trotzdem, werden sie ein zweites Mal Opfer; dieses Mal von offizieller Seite, weil die Gerichte allzu oft eine befremdliche Solidarität mit den Tätern an den Tag legen. Die Vergewaltigung sollte endlich als die schwere Gewalttat bestraft werden, die sie ist. Das ist die Gesellschaft den Opfern schuldig.