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Streit um Lucentis von Roche spitzt sich zu
Die Wunderspritze schützt sie vor dem Erblinden, ist aber viel zu teuer

Nur dank Lucentis kann sie noch sehen: Die 77-jährige Ursula Bättig aus Lostorf bei Olten.
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Die Spritze geht direkt ins Auge: Eine Lidsperre – zwei Zangen, die die ovalen Augenform zu einer fast quadratischen Öffnung aufzerren – sorgt dafür, dass die Patientinnen und Patienten nicht vor der Nadel zurückschrecken können. Die Injektion muss punktgenau sein, die Ärztin muss das Medikament rund 3,5 Millimeter seitlich von der Hornhaut in den Glaskörper spritzen. Das Medikament heisst Lucentis – auf Lateinisch bedeutet dies «leuchtend». Die Spritze rettet vor einer weitverbreiteten Augenkrankheit, die ansonsten innerhalb von wenigen Monaten unwiederbringlich zur Blindheit führt.

«Es tut nicht weh, man ist gut betäubt, aber ich sehe die Spritze in dem Moment, wo sie in mein Auge kommt. Es geht aber ruhig und auch schnell», sagt Ursula Bättig. Die 77-Jährige ist an einer besonders ausgeprägten altersbedingten feuchten Makuladegeneration (kurz feuchte AMD genannt) erkrankt und hat bislang 66 Spritzen ins Auge bekommen – ihr Mann führt darüber Buch. Alle vier Wochen braucht sie eine neue Behandlung. «Ich merke dann, wie das gespritzte Medikament in mein Auge fliesst und sich wie ein Öltropfen auf Wasser verteilt, ich sehe dann für kurze Zeit verschwommene Wellen.» Dann aber kommt die Sehschärfe zurück. Auf einem Auge ist Bättig inzwischen wegen einer Thrombose erblindet, ohne das Medikament für das andere Auge würde Bättig gar nichts mehr sehen.

Wegschauen unmöglich: Eine Patientin erhält eine Injektion mit Lucentis. 

Es ist eine Wunderspritze. Aber eine viel zu teure. Sie hat zu einem Skandal und zu Verurteilungen der beiden Pharmafirmen Roche und Novartis durch die Wettbewerbsbehörden in Italien und Frankreich geführt. Die Termine im Berufungsverfahren werden demnächst erwartet. Bussen in der Höhe von insgesamt 600 Millionen Euro wurden gesprochen; die Regierung in Rom fordert zudem über eine Milliarde Euro an Entschädigungen. Die Schweiz hat bislang noch überhaupt nichts unternommen. Das Problem spitzt sich jedoch gerade zu.

«Aus medizinischer Sicht ist der Wirkstoff Ranibizumab von Lucentis ein Wunder.»

Hendrik Scholl, Leiter Augenklinik des Basler Unispitals

Klar ist: Die Spritze wirkt. «Als Arzt bin ich wirklich dankbar, dass es dieses Medikament gibt, aus medizinischer Sicht ist der Wirkstoff Ranibizumab von Lucentis ein Wunder. Vorher sind die Erkrankten innerhalb kurzer Zeit erblindet.» Hendrik Scholl, der Chef der Augenklinik des Basler Universitätsspitals, wird das 2006 zugelassene Mittel weiter verwenden – auch wenn es ein viel günstigeres Medikament gibt.

Denn klar ist auch: Die Spritze ist viel zu teuer. Lucentis kostet pro Behandlung 1020.15 Franken. Das Krebsmittel Avastin, ebenfalls von Roche, ist rund 30-mal günstiger und hat die gleiche Wirkung beim Einsatz gegen die tumorartigen Wucherungen in der Makula – das ist jene Stelle auf der Netzhaut, wo wir am schärfsten sehen. Augenärzte könnten also ein viel günstigeres Mittel spritzen – wenn denn Avastin auch für die Augen zugelassen wäre. Dafür hat Roche aber keinen Antrag gestellt.

Krankenkassen dürfen die günstigere Spritze gar nicht erstatten

«Gäbe es nur den Wirkstoff Bevacizumab (Avastin), würde ich nur Bevacizumab verwenden», sagt Scholl. «Doch warum sollte ich mich als Arzt bei einem Off-Label-Use von Bevacizumab in Haftungsfragen verstricken, wenn es zugelassene Medikamente gibt?» Wenn Scholl oder andere Schweizer Augenärztinnen und -ärzte auf eigene Faust auf Avastin ausweichen, dann haften sie persönlich bei möglichen Problemen. Und wenn sie bei der Krankenkasse einen Antrag für die Kostenerstattung zur Behandlung mit dem Krebsmittel ausserhalb der zugelassenen Indikation – den Off-Label-Use – stellen, müssen diese den eigentlich ablehnen. Denn es gibt ja ein zugelassenes Medikament für AMD.

Ein Apotheker 2008 in Lausanne mit Lucentis und Avastin: Der Skandal um die Medikamente schwelt schon lange. 

Das eigentliche Problem ist, dass Roche keine Anstalten macht, sein Krebsmedikament Avastin offiziell für die Verwendung bei feuchter AMD zuzulassen. Dann würden die Schweizer Krankenkassen jährlich bis zu 150 Millionen Franken sparen können, wie SP-Nationalrätin Laurence Fehlmann Rielle sagt.

Natürlich würde Roche damit an Umsatz verlieren. Der Pharmakonzern führt dies jedoch nicht als Grund an für seine Weigerung, einen Zulassungsantrag für den Augeneinsatz von Avastin zu stellen. Firmensprecher Karsten Kleine windet sich viel eleganter heraus: «Roches Auftrag ist es, in die Entdeckung und Entwicklung neuer Medikamente und Behandlungen zu investieren, die Gesundheit und Lebensqualität verbessern, und zwar in Bereichen, wo noch ein klarer medizinischer Bedarf besteht.» Das aber sei bei AMD eben nicht der Fall. Es gebe ja Lucentis – und inzwischen auch gleichwertige Medikamente anderer Pharmafirmen.

«Es ist generell bei Pharmakonzernen so, dass die Entscheidung, zu welcher Krankheit wann weitergeforscht wird, abhängig vom Ablauf der eigenen Patente ist.»

Michael Nawrath, Branchenkenner

Nationalrätin Fehlmann Rielle gibt nicht auf und will, dass die Kassen Avastin auch ohne Zulassung für die Augenbehandlung erstatten können. In der Septembersession möchte sie beim Bundesrat eine Nachfrage dazu stellen. Auf eine entsprechende Motion von ihr, eingereicht vor einem Jahr, ist noch nichts passiert, obwohl der Bundesrat dies angekündigt hatte.

Roche ist derweil nicht untätig geblieben. Das Patent für Lucentis läuft nämlich aus. Die Firma hat also wieder ein Interesse daran, neue Produkte auf den Markt zu bringen. «Es ist generell bei Pharmakonzernen so, dass die Entscheidung, zu welcher Krankheit wann weitergeforscht wird, abhängig vom Ablauf der eigenen Patente ist», erklärt Branchenspezialist Michael Nawrath.

Der Pharmakonzern hat also inzwischen in den USA den Zulassungsantrag für eine neue Version von Lucentis – mit neuem Patent – gestellt, der noch dieses Jahr bewilligt werden dürfte. Auch in der Schweiz liegt ein Zulassungsantrag bei Swissmedic dafür vor.

Der Preis für das neu formulierte Lucentis, das dann unter einem anderen Namen auf den Markt kommen soll, ist noch offen.

Es geht um denselben Wirkstoff – Ranibizumab –, in einer anderen Formulierung. Neu wird es keine Spritze sein, sondern ein winziger Behälter, der unterhalb des Lids ins Weisse des Auges implantiert wird. Darin lagert der Wirkstoff, der über sechs Monate hinweg kontinuierlich abgegeben wird. Die Neuerung ist, dass die Patienten sich nicht mehr alle vier bis sechs Wochen eine Injektion setzen lassen müssen. «Für mich wäre das eine grosse Erleichterung», sagt AMD-Patientin Bättig. Denn für jede Behandlung braucht sie jeweils drei Termine – zusätzlich zur Injektion muss sie nämlich zur Vor- und zur Nachuntersuchung. «Zum Glück kann mein Mann mich mit dem Auto fahren.»

Roches nächster Coup

Das Implantat wird wohl ein Renner werden. «Es ist absehbar, dass das umformulierte Lucentis dank der deutlich geringeren Zahl von Arztbesuchen neuer Marktführer wird», sagt der Pharmaspezialist Michael Nawrath. Das heisst auch: Die günstigeren Biosimilars, die Lucentis nun ablösen können, haben bei Patienten kaum eine Chance. Denn es ist keine reine Bequemlichkeit, sondern für die oft gebrechlichen Patientinnen und Patienten ohne Angehörige, die sie fahren können, eine wichtige Verbesserung, wenn sie sich nur noch jedes halbe Jahr auf den Weg zur Augenärztin machen müssen.
Roche spielt das in die Karten, denn der Pharmariese wird so die inzwischen entstandene Konkurrenz mit ebenso teuren Wunderspritzen abschütteln können. Der AMD-Markt ist umkämpft, denn er ist vielversprechend: Die Zahl der Patientinnen und Patienten nimmt mit der älter werdenden Bevölkerung stetig zu.

Auch der Basler Rivale Novartis profitiert von Roches Lucentis. Novartis ist am Umsatz von Lucentis beteiligt – weil der Konzern das Mittel ausserhalb der USA vermarktet, was auf eine Vereinbarung von 2003 zurückgeht. Deswegen entfällt der Grossteil der Busse in Frankreich und Italien auch auf Novartis. Beim neuen Implantat ist der Konzern nicht mehr dabei.

Denn Novartis hatte voll auf sein eigenes AMD-Medikament Beovu gesetzt: Die Fertigspritze (Preis 1041.90 Franken), die erst 2019 auf den Markt kam, sollte ein Bestseller werden. Denn sie muss nur alle acht bis zwölf Wochen gesetzt werden. Analysten schätzten den möglichen weltweiten Umsatz auf bis zu 3,5 Milliarden Dollar jährlich. Doch es tauchte ein Sicherheitsproblem auf, in seltenen Fällen kann Beovu zu schweren Nebenwirkungen führen. Damit ist Novartis nun aus dem Rennen.

Neues Lucentis könnte noch teurer werden

Die Preisfrage konzentriert sich nun voll auf Roche – und sein neues Lucentis-Implantat. Wird dieses günstiger als das alte? Oder wird es gar noch teurer? Beim Preis geht es nicht um Forschungsaufwand oder Herstellungskosten, sondern vor allem auch darum, wie viel Mehrnutzen gegenüber bisherigen Medikamenten eine neue Therapie bringt. Weil Lucentis damals das erste Wundermittel gegen die Augenkrankheit war, konnte Roche überhaupt so viel dafür fordern. Nun sind sie mit ihrem 6-Monats-Implantat wiederum führend. Es kann also durchaus sein, dass Lucentis noch teurer wird.