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Schweizer Stauseen verlanden
«Die Winter­reserve wird immer kleiner»

Muss wegen fortschreitender Verlandung saniert werden: Der in den Siebzigerjahren erbaute Gigerwaldstausee im Calfeisental im Kanton St. Gallen.
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Schweizer Energieproduzenten betonen es bei jeder Gelegenheit: Die Jahresproduktion der Wasserkraftwerke zu halten, sei in Zukunft eine grosse Herausforderung. Schuld seien vor allem die verschärften Umweltauflagen. Von Verlandung der Stauseen ist hingegen in der Öffentlichkeit kaum die Rede. Dabei hat ein internationales Forschungsteam im Fachmagazin «Sustainability» letzte Woche davor gewarnt, dass die europäischen Speicherseen bis dato knapp ein Fünftel an Volumen verloren haben. Für die Schweiz schätzen die Forschenden sogar einen bisherigen Verlust an Speichervolumen von rund einem Viertel, bis 2050 gingen weitere 10 Prozent verloren. 

Schweizer Fachleute sind sich einig: Diese Werte sind zu hoch gegriffen. Trotzdem sagt Robert Boes: «Das Thema sollte mehr politisches Gewicht erhalten.» Der Direktor der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich beschäftigt sich seit langem mit der Sedimentation der Schweizer Speicherseen. «Alle reden von der Winterreserve in der Stromversorgung, dabei wird sie immer kleiner», sagt er.

Das Bundesamt für Energie geht in einer Hochrechnung von einem Verlust der Speicherkapazität von etwa 7 Prozent bis 2050 infolge zunehmender Verlandung aus. Es nimmt dabei an, dass die Stauseen ohne Massnahmen durchschnittlich um 0,2 Prozent pro Jahr verlanden. «Wenn wir von Energiesicherheit reden, dann gehört die Verlandung auch dazu», sagt Boes. Einen detaillierten schweizweiten Überblick über den Verlust von nutzbarem Speichervolumen gibt es zwar bisher nicht, wie das Bundesamt für Energie sagt.

Ein Viertel an Speicherkapazität ist möglicherweise bisher durch Verlandung verloren gegangen.

VAW-Direktor Boes hält die bisherigen Schätzungen aber für realistisch. Sollten sie sich bewahrheiten, so ist der Verlust beträchtlich: Das Speichervolumen der Schweizer Stauseen beträgt etwa 4 Milliarden Kubikmeter, davon sind 3,8 Milliarden für die Stromproduktion nutzbar. Das entspricht einem Energiegehalt von rund 8,9 Terawattstunden (TWh). Bei einem Verlust von einem Viertel an Speicherkapazität in den letzten Jahrzehnten wären allein durch Verlandung rund eine Milliarde Kubikmeter Wasservolumen verloren gegangen. 

Eine weitere Verlandung mit einer Abnahme der Speicherkapazität um 7 Prozent bis 2050 würde etwa 0,6 TWh Strom pro Jahr entsprechen, der nicht produziert werden könnte. Zum Vergleich: Die geplanten zusätzlichen 15 Speicherprojekte für die Produktion von Winterstrom sollen zusätzlich 2 TWh bringen. Aufgrund der Verlandung müssten also rund 30 Prozent zusätzlicher Strom erzeugt werden, um netto dieses Ziel zu erreichen.

Bei Spülungen geht Wasser verloren

Nun sind das vorerst nur grobe theoretische Schätzungen, weil viele Stauseen nicht vollständig genutzt werden. Und von den mehr als 1100 Speicherseen und Stauanlagen sind nur 214 grosse Speicher, die unter der Aufsicht des Bundes stehen und für die saisonale Speicherung, sprich bei der Produktion des Winterstroms eine Rolle spielen. Dennoch: «Ohne Massnahmen gegen die Verlandung wird es in Zukunft weniger Winterstrom geben», sagt Robert Boes.

Grundsätzlich sind sich die Betreiber der Problematik bewusst. Sie versuchen denn auch, mit regelmässigem Ablassen von Wasser – der Fachmann spricht von Spülungen – einen Teil des von den Zuflüssen antransportierten Kies, Sand und Silt zu beseitigen. Die Wirkung der Spülung ist umso besser, je länger sie intensiv erfolgt und je tiefer der Stauspiegel dabei abgesenkt wird. Die Krux dabei: Je stärker die temporäre Absenkung, desto mehr Wasser geht für die Stromproduktion verloren.

«Früher oder später hat jeder Speichersee ein Verlandungsproblem».

Robert Boes, VAW-Direktor

Die meisten Stauwerke sind in den Jahren zwischen 1950 und 1970 entstanden. «Die Erbauer gingen damals von einem Betrieb von rund 100 Jahren aus und dass Verlandung in dieser Zeitperiode noch kein Problem darstellen würde», sagt Boes. Für manche Stauseen, deren Zufluss nicht so viel Feststoffe trägt, mag das zutreffen. Aber früher oder später werde wohl jeder Speichersee ein Verlandungsproblem haben, schätzt Boes. 

Das gilt auch für grosse Stauseen wie etwa Grand Dixence, auch wenn das Problem derzeit noch nicht akut ist. Die Betreiber des Kraftwerks Mauvoisin im Wallis mussten bereits vor 30 Jahren für teures Geld den Grundablass und Wasserfassung für die Turbinierung wegen des Feinsediments höherlegen.

Grundablass musste bereits vor 30 Jahren höhergelegt werden: Stausee Mauvoisin.

Das gleiche Problem hat aktuell der Gigerwaldstausee im Calfeisental, südwestlich von Bad Ragaz SG. Eigentlich sollte er jetzt komplett entleert sein. Doch die Axpo hat im Herbst entschieden, die Arbeiten zu unterbrechen. Auslöser war die drohende Stromknappheit: Der Gigerwaldsee liefert in den Wintermonaten bis zu 160 Gigawattstunden Strom. Die Axpo hat also die Versorgungssicherheit priorisiert.

«Allzu lange können wir die Sanierung nicht aufschieben.»

Erich Schmid, Axpo-Projektleiter Sanierung Gigerwaldstausee

Notwendig bleibt die Sanierung trotzdem. «Allzu lange können wir sie nicht aufschieben», sagt Projektleiter Erich Schmid. Geplant ist sie nun im Winter 2024/25. Der Grund ist die Sicherheit. Seit der Stausee 1977 in Betrieb gegangen ist, lagern seine Zuflüsse Sedimente wie Silt, Sand oder Kies ab, die zum Teil bis zum Fuss der 147 Meter hohen Staumauer gelangen. Dort sammeln sie sich an und haben heute die Höhe des sogenannten Grundablasses erreicht. Das ist die unterste verschliessbare Öffnung eines Stausees, ähnlich einem Badewannenstöpsel. Sie darf keinesfalls verstopft sein, denn im Notfall müssen die Betreiber einen Stausee rasch leeren können, zum Beispiel, wenn sich herausstellen sollte, dass die Stabilität der Mauer gefährdet ist. 

Teure Sanierung

Die Axpo wird nun die Einlaufbauwerke zum Grundablass sowie zum Triebwasser – jenes Wasser, das die Turbine durchströmt – rund 20 Meter nach oben versetzen. Die Sedimenteinträge werden in dieser Zeit weiterwachsen, zwischen etwa 5 und 40 Zentimeter pro Jahr. «Die Speicherkapazität des Stausees wird dadurch aber auch in Zukunft kaum gemindert», sagt Schmid. Dies, weil sich die Sedimente vor allem im tief gelegenen Teil des Sees sammeln würden, welcher nicht genutzt werde. Dennoch: Ohne Massnahmen würde früher oder später ein wertvoller Speicher aus Sicherheitsgründen wegfallen.

Auf Verlandungen zu reagieren, kostet Geld: 25 Millionen sind für die Arbeiten veranschlagt, hinzu kommen etwa 10 Millionen Franken durch entgangene Stromproduktion. Es handle sich um die günstigste Variante, sagt Projektleiter Schmid. Geprüft hatte die Axpo mehrere Möglichkeiten. Eine davon war es, den Stausee auszubaggern. Obschon es sich nur um einen mittelgrossen Stausee handelt, würden dabei laut Schmid riesige Mengen an extrem nassem Schlamm anfallen, der in der Folge beim Stausee auf grossen Flächen entwässert und anschliessend ins Tal gefahren und in einer Deponie entsorgt werden müsste. Schmid rechnet mit 5000 Lastwagen pro Jahr, also 15 pro Tag. «Das war für uns aus ökologischen Gründen keine Option.»

80’000 Kubikmeter Geröll und Sand

Einen anderen Weg geht das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich beim Stausee Solis unterhalb von Alvaschein im Kanton Graubünden. Dort ist die Verlandung bereits weit fortgeschritten. Der kleine Stausee wurde 1986 gebaut und ist für Schweizer Verhältnisse relativ jung. «Die Albula bringt viel Geschiebe», sagt Lucien Stern, Leiter Kraftwerke Mittelbünden des EWZ. So beträgt der natürliche Eintrag durch den Gebirgsfluss jährlich etwa 80’000 Kubikmeter. Die Folge: Die Verlandung reduzierte das nutzbare Volumen für die Stromproduktion um rund ein Drittel, obwohl ein lokales Kieswerk jedes Jahr rund 25’000 Kubikmeter Kies und Geröll ausbaggert.

Die kontinuierliche, jährliche Sedimentation drohte wie beim Gigerwaldsee den Grundablass zu verstopfen. Die Eigentümerin reagierte vor gut zehn Jahren – und wählte die wirtschaftlich günstigste Variante, um den Verlandungsprozess zu bremsen: Sie liess unter wissenschaftlicher Begleitung der ETH-Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) parallel zum See einen 1000 Meter langen Geschiebeumleitstollen bauen, der 2012 in Betrieb ging. Kostenpunkt: rund 40 Millionen Franken. «Ohne den Stollen wäre der Stausee früher oder später nicht mehr funktionstüchtig gewesen», sagt Lucien Stern.

Seit zehn Jahren senken nun die Betreiber des Stausees jeweils bei Hochwasser den Wasserspiegel ab – durch Öffnen des Umleitstollens. Die Albula wird darauf abgelenkt, sodass das Wasser und Geschiebe am See vorbeifliesst und schliesslich unterhalb der Staumauer wieder in den Fluss mündet. «Hochwassersituationen gibt es normalerweise ein- bis zweimal im Jahr», sagt Stern.

Auslauf des Umleitstollens in die Albula unterhalb des Stausees Solis.

Das millionenteure Bauwerk hat bisher den erhofften Dienst erfolgreich getan. Eine Messkampagne der VAW zeigt: Von den zufliessenden Sedimenten wird der grösste Teil dank des Stollens stromabwärts weitergeleitet. In der Schweiz gibt es derzeit zehn kleine Speicherseen, an denen durch Umleitstollen die Verlandung gebremst wird.

«Das ist eine betriebliche Notwendigkeit, sonst verlandet der See vollends.»

Lucien Stern, Leiter Kraftwerke Mittelbünden

Die Betreiber des Stausees Solis wollen allerdings nicht nur eine weitere Verlandung verhindern, sondern den beträchtlichen Verlandungskörper auch reduzieren. «Wir möchten deshalb mehr spülen als bisher», sagt Lucien Stern. Dabei kann während zwei bis drei Tagen kein Strom produziert werden. «Das ist eine betriebliche Notwendigkeit, sonst verlandet der See vollends», sagt der Leiter Kraftwerke Mittelbünden.

Die Menge der Stromproduktion hat sich trotz kleineren Nutzvolumens nicht reduziert. Der Grund: Der Stausee Solis staut Wasser für die Tages- und Wochenproduktion, und die Kraftwerke verarbeiten immer möglichst viel der zufliessenden Wassermassen. Dennoch: Je kleiner das Nutzvolumen wird, desto öfters müssen die Betreiber zu einem Zeitpunkt Strom produzieren, der betrieblich und wirtschaftlich ungünstiger ist. Das kann für den Betreiber teuer werden.

Saugbagger soll künftig helfen

Es wird künftig weitere Lösungen brauchen, um Verlandung zu verhindern, aber auch, um bestehende Sedimentanlandungen zu beseitigen. Boes hofft auf eine neue Technik, die derzeit im Vorarlberg getestet und von der VAW wissenschaftlich begleitet wird. Dort saugt ein Bagger, der auf dem Stausee schwimmt, mithilfe einer Pumpe Sediment an, trennt den Sandanteil ab und befördert die Feinanteile, die den Grossteil der Anlandungen ausmachen, vor die Wasserfassung. Das Feinsediment wird dann über die Turbine dosiert abgelassen. Das gröbere Material wird unterhalb der Talsperre im Fluss gelagert und bei Hochwasser vom Wasser mittransportiert. «Der Vorteil gegenüber Spülungen ist, dass kein Wasser abgelassen werden muss und es deshalb keinen Betriebsunterbruch gibt», sagt VAW-Direktor Robert Boes. Ausserdem erhält die Restwasserstrecke unterhalb der Sperre wieder Geschiebe, was ökologisch erwünscht ist. 

Diese Methode könnte in Zukunft eine wichtige Option sein, um grosse Speicherseen vom Grossteil der Sedimente zu befreien. Ganz im Sinne des Energiespar-Slogans des Bundesrats: «Jede Kilowattstunde zählt.»

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