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Flüchtlinge an der Grenze zu Polen
Die Weissrussen halten sie für Kollaborateure des Regimes

Warten auf eine Möglichkeit, in die EU zu gelangen: Ein Vater mit seinem Kind an der Grenze zwischen Weissrussland und Polen. 
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Die Tankstelle, in der er arbeitet, liegt nicht weit vom Minsker Bahnhof. Ständig kämen dort nun Menschen «mit dunkler Haut» vorbei, sagt Fjodor, der Tankstellenmitarbeiter am Telefon. Seinen vollen Namen möchte er nicht nennen, für Weissrussen ist es riskant, mit ausländischen Journalisten zu sprechen. Die Flüchtlinge, erzählt er, kauften Getränke und Essen im Tankstellenimbiss, bezahlten in Euro oder Dollar, mit grossen Scheinen. Fjodor findet das komisch. «Wir haben mit anderen Kulturen in diesem Umfang nie was zu tun», er spreche auch mit Freunden darüber. «Man hat ein bisschen Angst.»

Angst herrscht in Weissrussland aus vielen Gründen. Machthaber Alexander Lukaschenko unterdrückt sein eigenes Volk, lässt Andersdenkende verfolgen. Nun hat er zudem Tausende Flüchtlinge ins Land gelockt, um die Nachbarn Polen und Litauen unter Druck zu setzen. Das Regime verspricht Menschen aus Syrien und dem Irak, sie könnten über Weissrussland in die EU gelangen. Fjodor versteht, dass seine Heimat nicht das Ziel der Geflüchteten ist. «Das ist kein Land, in dem man bleiben möchte», sagt er über Weissrussland. «Und unsere Gesellschaft ist nicht bereit, sie aufzunehmen.»

Flüchtlinge aus der Ostukraine

Die Situation ist doppelt tragisch: Während viele Weissrussen selbst an Flucht denken, instrumentalisiert Lukaschenko Hilfesuchende aus anderen Ländern für seine politischen Ziele. Der Diktator wendet Gewalt gegen sein eigenes Volk genauso bereitwillig an wie gegen die Flüchtlinge, die er über die EU-Aussengrenze treiben möchte. Ein Gefühl von Solidarität entsteht trotzdem nicht: Weissrussen seien «generell misstrauisch gegenüber Ausländern», sagt der weissrussische Politikwissenschaftler Andrei Kasakewitsch, der selbst in die EU geflohen ist.

Migranten in Weissrussland, das waren bisher vor allem einige Zehntausend Menschen, die vor dem Kriegselend in der Ostukraine geflüchtet sind. Sie sprechen Russisch, fallen kaum auf. Ganz anders ist es mit den Flüchtlingen aus dem Irak und Syrien, die sich im Minsker Zentrum versammeln, um dort immer wieder in Gruppen zur Grenze aufzubrechen. Sie machen Selfies vor dem Hotel Planeta, sitzen mit Taschen auf den ausladenden, streng sozialistisch konstruierten Plätzen und Strassen der Stadt. Meist wohnen sie in Hotels und angemieteten Wohnungen, jedenfalls solange das Geld reicht. Viele Unterkünfte verlangen überteuerte Preise.

Ausharren in der Kälte: Flüchtlinge aus dem Nahen Osten übernachten an der polnischen Grenzanlage. 

«Einige schlafen einfach auf der Strasse», sagt Alena Tschechowitsch von der weissrussischen unabhängigen Hilfsorganisation Human Constanta. Dabei liegen die Temperaturen nachts unter null. «Ihre Lage ist manchmal schrecklich. Einige Flüchtlinge haben kleine kranke Kinder, aber keine Medikamente.» Manche hätten eine Lungenentzündung, Mandelentzündung und Erfrierungen, nachdem sie tagelang im Wald an der Grenze verbracht haben. Tschechowitsch beklagt, dass die Migranten in den Städten keine Hilfe vom Staat erhalten, der versorge nur jene mit Essen und Kleidung, die an der Grenze zu Polen sind.

Lukaschenko beabsichtigte nie, die Migranten in Weissrussland zu behalten. Weil die EU ihm gegenüber aber hart bleibt, setzt er auf eine doppelte Strategie: Einerseits presst er die Menschen weiter zum Versuch, illegal über die Grenze zu gelangen. Am Freitag besuchte er Geflüchtete, die nahe der polnischen Grenze in einer Lagerhalle ausharren: Wer weiter Richtung Westen gehen wolle, dem werde geholfen, sagte der Diktator, denn «das ist Ihr Recht». Er versprach den Flüchtlingen, er werde «alles tun, was Sie wollen, auch wenn es für Polen, Letten oder sonst jemanden schlecht ist».

Bisher hat die EU 700’000 Euro für das weissrussische Rote Kreuz zugesagt und 3,5 Millionen Euro für Rückreisen.

Andererseits werden bereits Flugzeuge mit Geflüchteten zurück in den Irak geschickt. «Die weissrussischen Behörden scheinen bereit zu sein, sie aus dem Land heraus zu zwingen», sagt Politikwissenschaftler Kasakewitsch – es sei denn, die EU bezahle Lukaschenko deren Unterbringung. Bisher hat die EU 700’000 Euro für das weissrussische Rote Kreuz zugesagt und 3,5 Millionen Euro für Rückreisen.

Bereits vor einigen Jahren, als eine Million Flüchtlinge allein nach Deutschland kamen, sprach sich in Weissrussland eine grosse Mehrheit gegen eine «Politik der offenen Tür» aus. Das unabhängige weissrussische Umfrageinstitut Nisepi kam damals zum Schluss, dass «die Weissrussen gegenüber Muslimen eine der intolerantesten Nationen» seien, intoleranter noch als Polen, Litauen oder Russland. Die politische Lage hat sich seither radikalisiert, seit der gefälschten Präsidentschaftswahl, den Massenprotesten, der Massenfolter. Manche Weissrussen haben Verständnis für die Hilfesuchenden, weil sie selbst an Flucht denken. Andere halten sie für Kollaborateure des Regimes.

Gefangen im Niemandsland: Migranten harren nahe der polnischen Grenze in einer Lagerhalle aus. 

Ljubow Sarlai aus Grodno beispielsweise, die bei einem Protest gegen Lukaschenko einmal festgenommen wurde, weil sie eine Jogginghose in den rot-weissen Farben des Widerstands trug, hält die meisten Flüchtlinge für «Provokateure, die ein leichtes Leben führen wollen». Sie seien faul und gar nicht ausgehungert, «die teuersten Zigaretten und Chips kaufen sie», schreibt Sarlai in einem Chat. Ihre Freundin sei Taxifahrerin und fahre ab und zu «voller Furcht» Flüchtlinge. «Das mit den Migranten sind sowieso alles politische Spiele unserer Staatsmacht.»

Auch Julia aus Minsk, die kürzlich ihren Job als Demografin verlor, erinnert sich, wie empört sie im Sommer war: Damals wurden die Grenzen gesperrt, Weissrussen durften nicht mehr ausreisen, angeblich wegen Corona. Zugleich kamen die ersten Flüchtlinge. Sie sei wütend gewesen wegen der Ansteckungsgefahr, Corona sei in Minsk heute ein viel grösseres Problem als die Flüchtlingskrise. Davon abgesehen: Weil «sehr viele Weissrussen gezwungen sind, in andere Länder auszureisen», sagt Julia, seien viele doch überzeugt, dass Syrer und Iraker «nicht ohne Grund aus ihren Ländern fliehen». Auf dem Dorf allerdings «wo die Alten fernsehen und Angst bekommen», sagt Julia, sei die Lage anders als in Minsk. Für die Dörfler seien die Flüchtlinge «ein Schock». Ihre Grossmutter, deren Haus auf dem Land leer stehe, habe Angst vor Plünderungen.

Lukaschenko verliert an Rückhalt

Fjodor von der Minsker Tankstelle muss derweil an die Hundert-Euro-Scheine der Flüchtlinge denken. «Wie kann ein Weissrusse einem Migranten helfen, wenn der Bündel Geld, Devisen in der Tasche hat?», fragt er. Da müsse doch eher der Migrant dem Weissrussen helfen. Dass in Syrien und im Irak oft alle Verwandten zusammengelegt haben, damit sich ein oder zwei auf den Weg machen können, weiss er nicht.

Viele Weissrussen machen Lukaschenko trotz staatlicher Propaganda verantwortlich für die Flüchtlinge. Der Machthaber hat in den vergangenen 18 Monaten ohnehin viel Rückhalt verloren. Die Weissrussen, die ihn noch unterstützen, tun dies, weil sie sich Ruhe und Stabilität wünschen. Was jetzt mit den Flüchtlingen passiere, sagt Politikwissenschaftler Kasakewitsch, «kann diesen sozialen Konsensus brechen». Der Diktator könnte weiter an Rückhalt verlieren.