Überraschende FundeDie vierte Welle brachte in Pompeji den Tod
Erst zwei Drittel der antiken Stadt sind ausgegraben. Neue Funde ermöglichen die genaue Rekonstruktion der Katastrophe – eine Chance hatte nur, wer sofort flüchtete.
Ein Knall zerriss die Stille, die Menschen schauten in den Himmel, und schon kam der Tod. Diesen Eindruck bekommt, wer Gipsabdrücke der erstarrten Opfer von Pompeji sieht. Die Explosion des Vesuvs scheint sie an jenem Oktobermorgen im Jahr 79 n. Chr. mitten aus ihrem Alltag gerissen zu haben. Unmengen von Asche, Magma und Gestein begruben die antike Stadt und löschten Pompeji aus. Niemand überlebte. So lautete lange die Zusammenfassung der Katastrophe. Doch so war es nicht.
Pompeji wurde vor mehr als 250 Jahren wieder gefunden, die Grabungen in der Stadt sind jedoch längst nicht abgeschlossen. Noch immer liegt ein Drittel der Funde unter der Erde, und mit jeder neuen Grabung gibt der Boden weitere Geheimnisse preis. Vor einigen Wochen stiess ein Archäologenteam im «Haus der keuschen Liebenden» in der Region IX – mitten in der Stadt – auf zwei Tote, die eine neue Episode von Pompejis Untergang erzählen.
Wie gross die Faszination für die Stadt noch immer ist, zeigt ein Blick in die Bestsellerlisten. Seit zwei Jahren hat Pompeji einen deutschen Chefarchäologen. Über seine Arbeit hat Gabriel Zuchtriegel ein Buch geschrieben. «Vom Zauber des Untergangs» hält sich seit drei Monaten in den Top Zwanzig der «Spiegel»-Bestsellerliste.
«Es muss die Hölle auf Erden gewesen sein.»
Die Archäologen fanden die beiden kürzlich entdeckten Skelette in einem Lagerraum. Amphoren, Gefässe und Schalen standen an den Wänden. Die Männer, beide mindestens 55 Jahre alt, suchten in dem Raum vermutlich Schutz. Und das wurde ihnen zum Verhängnis. Heftige Erdstösse begleiteten den Vulkanausbruch, die Mauern hielten ihnen nicht stand. Die südliche Wand des Lagerraums begrub den ersten Mann, ein Teil der Westwand stürzte auf den zweiten. Einer der Männer hielt noch schützend den Arm vor den Kopf.
Inzwischen lässt sich der Ablauf der Katastrophe ziemlich genau rekonstruieren: An jenem Oktobermorgen explodierte die Kuppe des Vesuvs, Magma schoss heraus und katapultierte Gestein, Asche und Erde in die Höhe. Über dem Vulkan bildete sich eine gigantische Wolke, die bis in eine Höhe von rund drei Kilometern wuchs. Aus ihr begann es zuerst kleine Lavasteine zu regnen. Wer nicht aus der Stadt floh, der suchte in den Häusern Schutz vor diesem Gesteinsregen.
«Für viele erwies sich das als tödliche Falle», sagt Zuchtriegel. Der Steinregen dauerte rund 18 Stunden, am Schluss lag eine 2,5 Meter dicke Schicht auf den Strassen und Dächern. Viele Menschen sassen in ihren Häusern fest. Dann begann die Wolke über dem Vulkan rund zwanzig Stunden nach dem Ausbruch zu kollabieren. Dabei entstanden glühend heisse Druckwellen, die sich mit Geschwindigkeiten von bis zu hundert Kilometern pro Stunde ausbreiteten. Die Stadtmauern brachen die erste Welle, die zweite und die dritte schafften es abgeschwächt bis in die Stadt.
Es lebten 45’000 Menschen in Pompeji – viel mehr als lange angenommen
Den Tod brachte schliesslich die vierte Welle, am Tag nach der Eruption morgens zwischen sieben und acht Uhr. Dass der Morgen dämmerte, sahen die Bewohner und Bewohnerinnen allerdings kaum. Die Aschewolke verdunkelte den Himmel. Die vierte Welle war 300 bis 400 Grad Celsius heiss und hatte eine enorm zerstörerische Kraft. Wer in der Stadt ausgeharrt hatte, war chancenlos. «Es muss die Hölle auf Erden gewesen sein», sagt Zuchtriegel. «Die Menschen konnten sich nicht erklären, was geschah. Sie dachten, die Götter hätten sie verlassen.»
Rund 1300 Menschen starben. «Wie viele zusätzlich auf der Flucht umgekommen sind, wissen wir nicht», sagt Zuchtriegel. Es könnten viele gewesen sein. Ein prominentes Opfer war der römische Gelehrte Plinius der Ältere, dessen 37-bändige Naturgeschichte bis heute überliefert ist. Zum Schutz vor den Steinen band er sich ein Kissen auf den Kopf, trotzdem starb er auf der Flucht aus der Stadt.
Andere hatten mehr Glück, wie neue Berechnungen zur Einwohnerzahl der Stadt zeigen. Früher nahm man an, dass rund 8000 Menschen in Pompeji gelebt hatten. Dann entdeckten Forscher vor einigen Jahren eine Grabinschrift, die das Bild völlig veränderte. Heute weiss man: Die Stadt platzte vor ihrem Untergang aus allen Nähten.
In der Grabinschrift sind fast 7000 Bürger erwähnt. Doch als Bürger galten nur freie, stimmberechtigte Männer. Rechnet man Frauen, Kinder, Sklaven und Nichtstimmberechtigte hinzu, kommt man auf eine Schätzung von 45’000 Bewohnern und Bewohnerinnen, die auf engem Raum lebten.
Es gab grosse soziale Unterschiede. Die reichen Familien lebten in prachtvollen Villen wie dem «Haus des Fauns». Es hatte rund 50 Zimmer, man kann es heute noch besichtigen. Die Wände waren mit aufwendigen Gemälden verziert. In der Mitte des Hauses lag das Atrium, ein offener Innenhof, von dem alle Räume abgingen.
Ein seltener Einblick in das Leben der Versklavten
Die Ärmeren hausten hingegen sehr beengt. Doch auch in ihr Leben bietet Pompeji einen einzigartigen Einblick. «Die meisten Quellen zur Antike stammen von Reichen und Mächtigen. Nur sie hinterliessen Texte, Inschriften, Bauten und Gräber», sagt Zuchtriegel. Von den Handwerkern, Bäuerinnen, Handlangern und Sklavinnen bleiben selten Spuren. «Aber Pompeji ist wie ein Riss in der Leinwand, durch den wir einen Blick hinter die offizielle Version der Geschichte werfen können.»
Zum Beispiel in das Leben der Sklaven und Sklavinnen: Was man über ihren Alltag in der Antike weiss, stammt grösstenteils von Sklavenhaltern oder einer kleinen Gruppe Freigelassener, die Inschriften hinterliessen. Deshalb war ein Fund, der Zuchtriegels Team vor zwei Jahren gelang, etwas ganz Besonderes.
Eigentlich jagten die Archäologen Diebe, die ein unterirdisches Tunnelsystem angelegt hatten, um Funde zu stehlen. Auf der Suche nach den Tunneln stiessen sie zufällig auf ein bisher nicht entdecktes Zimmer, das sich unter einem Ascheboden versteckte. «Es war meine bisher schönste Entdeckung», sagt Zuchtriegel. Das versteckte Zimmer misst 16 Quadratmeter, hatte nur ein winziges Fenster und befand sich neben einer Art Garage für einen prunkvollen Wagen.
In diesem Zimmer fanden die Archäologen drei einfache Betten für zwei Erwachsene und ein Kind. Ausserdem einen Nachttopf, einen Tonkrug für Wasser und einen weissen Fleck an der Wand. Dort hing einst eine Öllampe. Die weisse Farbe sollte das spärliche Licht in dem Raum reflektieren und verstärken.
«Es war ein Versuch, bei aller Enge und Bescheidenheit ein Mindestmass an Intimität und Gemütlichkeit zu erzeugen», sagt Zuchtriegel. Der Raum diente zusätzlich als Abstellkammer und Arbeitsort. Amphoren für Wein, Öl und Getreide lehnten an den Wänden. In einer Holzkiste lag Zaumzeug für den prunkvollen Wagen. Vermutlich lebten nicht nur Sklavenfamilien so, sondern ein Grossteil der Bevölkerung. Es gab Einzimmerwohnungen, die gleichzeitig als Werkstatt dienten und in denen ganze Familien lebten.
Rund 1400 Wohnungen kennt man heute. Aber auch Läden, Werkstätten, Bäckereien, Bordelle, Tempel, Friedhöfe oder Strassenküchen. Das schnelle Essen war auch in der Antike beliebt. Vor einigen Jahren stiess man in Pompeji auf ein besonders gut erhaltenes Thermopolium, eine Art Fast-Food-Restaurant, in dem man sogar noch erkennen konnte, was in welchem Kochtopf geschmort hatte. Die ärmeren Menschen ernährten sich jedoch vor allem von Brot. «Manchmal gab es dazu vielleicht eine Zwiebel, Oliven, vielleicht ein Stück Käse.»
«Das Besondere ist, dass wir in Pompeji Gegenstände in den Zusammenhängen finden, wie die Menschen sie einst benutzten», sagt Zuchtriegel. Das ist in der Archäologie sehr selten. Sonst stossen die Forscher meist auf Dinge, die jemand vor langer Zeit wegwarf oder die ein Verstorbener als Grabbeigabe bekam. Über ihre Verwendung im Alltag kann man dann oftmals nur spekulieren. In Pompeji fühle es sich manchmal so an, als betrete man das Haus eines Fremden, der mal eben nur kurz weggegangen sei.
Vom Erfolg seines Buches ist Zuchtriegel ein bisschen überrascht: «Aber ich glaube, wir sind wie Blätter auf einer Wasseroberfläche. Und wir wissen, da unten ist noch ein Schatz von Erfahrungen aus Jahrtausenden von Geschichte, in den wir eintauchen können.» Und das fasziniere die Menschen.
Gabriel Zuchtriegel: Vom Zauber des Untergangs, Propyläen-Verlag, 240 S.
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