Experiment im JuraDie spektakulärste Herde der Schweiz
Sonntagsausflug nach Welschenrohr im Solothurnischen, wo fünf Wisente ihre Art in freier Wildbahn retten sollen.

Das Baby ist vier Monate alt und hat schon einen Bart. Gemächlich trottet es hinter seiner Mutter her, während der Vater wiederkäuend im Gras lungert und hinüber äugt zu den beiden Tanten, die in diesem Moment aus dem Unterholz auf die Wiese treten und sich zum Rest der Familie gesellen.
«Die sehen aus wie Kühe an der Fasnacht», lacht ein Bub, der mit den Eltern in den solothurnischen Jura gereist ist, um die spektakulärste Viehherde der Schweiz zu bestaunen. «Wie Kühe, die sich als Mammut verkleidet haben!»
Seit Mitte September ist die Weide hinter dem Hof Sollmatt ob Welschenrohr der Schauplatz eines einzigartigen Arterhaltungsprojektes. Der Verein «Wisent-Thal» möchte im Naturpark Thal, mitten im grössten zusammenhängenden Waldgebiet der Schweiz, eine Spezies ansiedeln, die – wie auch Steinbock, Luchs und Bartgeier – als ausgestorben galt: Der Wisent, der europäische Verwandte des nordamerikanischen Bisons, streifte einst als grösstes Landsäugetier über weite Teile des Kontinents: Kühe können bis zu 500 Kilo schwer werden, Bullen erreichen gar 800 Kilo.
Vorbild in Nordrhein-Westfalen
Wisente in freier Wildbahn leben heute nur noch in den Wäldern des polnisch-weissrussischen Grenzgebiets sowie im nordrheinwestfälischen Rothaargebirge, wo Prinz Richard zu Sayn-Wittgenstein zwei Dutzend dieser archaischen Zotteltiere in seine fürstlichen Wälder holte.
Nach dem Vorbild der deutschen «Wisent-Welt» ist das Schweizer Projekt von langer Hand geplant und nach wissenschaftlichen Kriterien aufgegleist worden, unterstützt vom Zürcher Wildnispark Langenberg, der sich schon früher mit der Aufzucht des Przewalski-Pferdes – es gilt als Urahn aller Pferde – und dessen Wiederansiedlung in der Mongolei, seiner ursprünglichen Heimat, einen Namen gemacht hat.
Auch die fünf Wisente, die nun als Pioniere in den solothurnischen Wäldern ausgewildert werden, sind unter menschlicher Obhut vor den Toren von Zürich aufgewachsen.
Vom Himmel goss es in Strömen, und in den Augen der Männer, die auf der Sollmatt die Wisente begrüssten, glänzte es verdächtig, als der prächtige Bulle, seine drei Kühe und das frisch geborene Kalb Mitte September aus den Transportern stiegen und sofort ihre neue Heimat erkundeten. Zum letzten Mal hörten die Tiere die vertrauten Stimmen ihrer Pfleger, die sie bei ihren alten Namen riefen – ebenfalls zum letzten Mal. Von nun an sollen sie sich an das Leben in Freiheit gewöhnen – als wilde, namenlose Tiere in freier Natur.

Die Wisente haben sich «erstaunlich gut» eingelebt, freut sich Sollmatt-Bauer Benjamin Brunner. Er wird von nun an als Ranger für das Wohlergehen der imposanten Ur-Viecher verantwortlich sein, die vorerst links vom Feldweg auf drei Hektaren Wald und Weideland leben.
Neugierig und misstrauisch zugleich beobachten Brunners Kühe, eine aus einem Stier und zwei Dutzend Simmentaler und Bündner Grauvieh-Muttertieren gemischte Herde, die fremden Kolosse auf der rechten Seite des Elektrozauns. «Manchmal frage ich mich, ob ich die Wisente mit den Kühen zusammenführen könnte», denkt der Ranger laut nach.
Tatsächlich verbieten strenge Richtlinien derlei Experimente. Denn von nun an werden sich die ungleichen Herden sukzessive voneinander entfernen. Bereits Anfang November geht das ambitionierte Arterhaltungsprojekt in die zweite Phase: Benjamin Brunner öffnet das Eingewöhnunsgehege und vergrössert so das Habitat der Wisente auf 50 Hektaren.
Lebensraum soll vergrössert werden
Wenn sich die Wisente weiterhin so friedfertig und zurückhaltend verhalten, wird ihr Lebensraum nach zwei Jahren erneut deutlich vergrössert – bis schliesslich, spätestens fünf Jahre nach dem Start des Projekts, alle Zäune fallen.

Kürzlich allerdings schreckte eine Hiobsbotschaft aus Deutschland auf: Im Rothaar-Gebirge hat sich der Verein Wisent-Welt, an dessen Konzept sich die Schweizer Artenschützer orientierten, aufgelöst. Kurz vor Abschluss des Projekts sind die deutschen Wisente nunmehr sich selbst überlassen.
Könnte ein ähnliches Schicksal auch dem Schweizer Verein und seinen Tieren blühen? Immerhin musste auch «Wisent-Thal» allerlei Widerstände aus bäuerlichen Kreisen überwinden. Erst im vergangenen Frühling hat das Bundesgericht ein jahrelanges juristisches Hickhack zugunsten der Wisente beendet.
«Wir haben keine Angst», beruhigt Stefan Müller-Altermatt, der als Solothurner Nationalrat den Verein «Wisent-Thal» präsidiert. «In Deutschland geht es um etwas ganz anderes – dort herrscht so etwas wie ein Religionskrieg: Unsere Freunde sind zwischen die Fronten der katholisch orientierten Bauernschaft und des reformierten Fürstenhauses geraten. Aber die Natur steht über solchen Konflikten – und die Wisente werden auch das überleben.»
Auf der Weide kuschelt sich das schmächtige Kalb an den mächtigen Bullen, der lässt es stoisch geschehen, und auf der anderen Seite des Elektrozauns ist Urs, ein älterer Wisent-Tourist, stehen geblieben und betrachtet gerührt die zärtliche Szene: «Ich bin stolz auf die Schweiz», sagt der Briefträger aus Burgdorf. «Stolz auf ein Land, in dem so etwas möglich ist.»
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