Super-G-Weltmeisterin Marta BassinoDie Skikönigin geht fast unter im italienischen Hickhack
Ihre Kolleginnen zankten und stritten, währenddessen schritt Marta Bassino aus ihren Schatten. Wer ist die Frau, die so schön Ski fährt?
Als Marta Bassino im Super-G WM-Gold gewinnt, wird im Zielraum eine «Marta Bassone» ausgerufen. Als sie später bei der Pressekonferenz sitzt, stehen etwa zehn Journalisten um sie herum. Zuvor, bei der zweitplatzierten Mikaela Shiffrin, waren es etwa viermal so viele.
Dabei ist es nicht so, dass die 26-Jährige am vergangenen Mittwoch völlig aus dem Nichts eine Medaille holt. Besonders ist vielleicht, dass sie es im Super-G tut, weil sie in dieser Disziplin noch nie gewann. Ihre sechs Weltcupsiege holte sie im Riesenslalom.
Bassino ist längst eine Grösse im Weltcup. Viele kennen sie trotzdem nicht. Wer ist diese Frau, die so schön Ski fährt wie nur wenige?
Vielleicht muss man im italienischen Team anfangen. Dort gibt es zwei Alphatiere, Bassino gehört nicht dazu. Sie ist anders als ihre Kolleginnen, hochanständig und zurückhaltend, wirkt fast schon scheu. Sie ist nicht so laut wie Federica Brignone, die sagt, was ihr nicht passt. Sie ist nicht so dominant wie Sofia Goggia, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht – bei eigentlich allem, was sie tut.
«Das Füsschen»
Da kann eine wie Bassino untergehen. «Una ragazza normale» sei sie, sagt sie nach ihrem Triumph im Super-G, und es klingt fast so, als würde sie sich dafür entschuldigen wollen, so zu sein, wie sie nun einmal ist: ein normales Mädchen. Sie sitzt nun an einem Tisch, am Handgelenk eine rosa Masche, umringt von den italienischen Journalisten, die ihr ihre Telefone und Mikrofone entgegenstrecken. Anderen ist dabei wohler, Goggia zum Beispiel, sie würde keiner als «ragazza normale» bezeichnen, sie sich selbst schon gar nicht.
Kaum 18 geworden, fuhr Bassino im März 2014 erstmals im Weltcup, einen Riesenslalom in Lenzerheide – und gleich auf Rang 19. «Sie hatte immer Respekt vor uns Älteren, aber sie war schon da sehr bestimmt», sagt Francesca Marsaglia. Sie war jahrelang mit Bassino, Brignone und Goggia unterwegs, im letzten März trat sie zurück, heute ist sie Expertin bei Eurosport. «Ich habe gesehen, wie sie zur Frau wurde», sagt sie über Bassino.
Ihre Teamkolleginnen nennen Bassino «Piedino», das Füsschen, weil kaum eine mit so viel Gefühl fährt wie sie. «Ihr Fuss ist magisch, er ist perfekt», sagt Marsaglia, «in ihren Kurven wirbelt nie Schnee auf.» Sie mache wenige Bewegungen, dafür aber immer die richtigen. «Bei ihr sieht Skifahren gleichzeitig einfach und schön aus.» Marsaglia zieht den Vergleich zu Lara Gut-Behrami, auch die Schweizerin zählt zu den Fahrerinnen mit den schönsten Schwüngen im Weltcup.
Die Elitegruppe der Italiener
Bassino stammt aus Borgo San Dalmazzo, einer kleinen Ortschaft im Piemont nahe der französischen Grenze. Sie lebt immer noch da. Das Elternhaus steht im Grünen, wenn sie aus dem Fenster schaue, sehe sie Wälder und Wiesen, erzählt sie. Ihr Vater Maurizio ist Skilehrer, aber schon seit über zehn Jahren nicht mehr ihr Trainer. «Ich sehe ihn einfach als Vater», sagt Bassino, sie hat noch zwei Brüder, Matteo und Marco.
In der Jugend probiert sie alles aus, sie fährt Ski und Mountainbike, schwimmt und übt sich in rhythmischer Gymnastik. Noch heute spielt sie Tennis. Das Skifahren wird zu ihrem Beruf, obwohl sie kein Wintermensch ist, sie möge den Frühling, wenn alles blühe. Noch bevor ihr jemand den Spitznamen «Piedino» gibt, wird sie «Dory» genannt. Dory ist ein Fisch aus dem Film «Findet Nemo», der vergisst, was ihm dreissig Sekunden vorher gesagt wurde. Bassino sagt: «Wie Dory habe ich zum Teil den Kopf in den Wolken.» Zumindest wenn es nicht ums Skifahren gehe.
Bassino arbeitet sich im Weltcup hoch, immer mit einer guten Portion Egoismus, «aber richtigem Egoismus», sagt Marsaglia. Sie nehme sich nicht wichtig im Umgang mit anderen, habe aber immer genau gewusst, was sie wolle, ihr Charakter, eine Mischung aus Zurückhaltung und Bestimmtheit, sei perfekt für dieses Geschäft. «Und sie machte immer die richtigen Schritte.» Bassino ist zuerst Zwanzigste in der Riesenslalom-Wertung, dann Zwölfte, Neunte, Fünfte und 2021 Erste. Im November 2019 gewinnt sie ihr erstes Weltcuprennen. Das bestätigt den italienischen Skiverband in seinem Handeln.
Dieser hat nur wenige Monate zuvor eine Elitegruppe gegründet, bestehend aus Bassino, Goggia und Brignone. Optimale Betreuung für die drei Ausnahmeathletinnen, die Königinnen der «Azzurre». Aber Goggia und Brignone, das geht nicht, zu unterschiedlich sind sie charakterlich, «sie werden nie Freundinnen», sagt Marsaglia. Die Gruppe von damals ist mittlerweile aufgelöst.
Die Heim-WM 2021 in Cortina d’Ampezzo wird zur grossen Enttäuschung, mit nur einer Medaille, Bassino holte Gold im Parallelrennen. Goggia fehlte verletzt. Brignone schied als Mitfavoritin in ihren Paradedisziplinen, Riesenslalom und Kombination, aus. Danach koppelte sie sich von Goggia, Bassino und dem ganzen italienischen Team ab.
Der Streit wird in den italienischen Medien fortgeführt und Goggia gegen Brignone fast schon zum Hassduell hochstilisiert. Goggia wirft Brignone vor, die Gruppe gespalten zu haben. Brignones Mutter Maria Quario schiesst zurück, wo es nur geht. Die einstige Skirennfahrerin und heutige Journalistin bezeichnet Goggia als Egozentrikerin, wirft ihr vor, bei ihrer Verletzung vor den Olympischen Spielen 2022 simuliert zu haben. Goggia antwortet mit Abfahrtssilber und sagt, der Sport sei schon genug streng, sie brauche keine weiteren Polemiken. Brignone versucht zu beschwichtigen, der Streit finde vor allem in den Medien statt.
Sie schaute zu Brignone auf
Und zwischen all dem Gezanke? Marta Bassino. «Sie legte sich eine Decke über und nahm sich das Beste der zwei heraus», sagt Marsaglia. Im Sommer 2021 trainiert sie mit Goggia, 2022 mit Brignone. Letztere tut ihr gut, weil sie eine Teamplayerin ist, andere mitzieht und immer noch eine Runde mehr macht. Auch Bassino selbst sagt: «Federica war immer eine Inspiration für mich. Ich sah ihr zu und dachte: ‹Was sie schafft, will ich auch schaffen.›» Im letzten Sommer fliegen Brignone und Bassino mit dem italienischen Team zur Saisonvorbereitung nach Südamerika, Goggia trainiert allein oder mit den Männern.
Und so haben die drei besten italienischen Skifahrerinnen ihre Wege gefunden. Jeder davon führte zu grossen Erfolgen. Goggia hat je zwei WM- und Olympiamedaillen und ist dreifache Siegerin im Abfahrtsweltcup. Brignone gewann schon fünf Medaillen bei Grossanlässen, zuletzt Gold in der Kombination von Méribel, und wurde 2020 Gesamtweltcupsiegerin.
Bassino, die Jüngste des Trios, zog nach und ist nun zweifache Weltmeisterin. Aus den grossen Schatten ihrer Landsfrauen ist sie herausgetreten, still, aber bestimmt, immer ihren Weg verfolgend. Am Donnerstag wird sie im Fokus stehen. Sie will Riesenslalom-Gold. Drei WM-Titel, das haben weder Goggia noch Brignone geschafft.
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