Weltmeisterin Flury im Interview«Ich musste einfach an den kleinen Kindern vorbeilaufen, das war nicht leicht»
Am Tag nach ihrem Weltmeistertitel in der Abfahrt redet Jasmine Flury über ihre Gefühle. Und sagt, woran sie sich gewöhnen muss.
Es ist Sonntagmorgen, der Tag nach dem grossen Coup von Jasmine Flury. Weltmeisterin in der Abfahrt ist sie geworden – völlig überraschend. Nun sitzt sie in der Lobby des Teamhotels in Méribel in einem Sessel, bestellt sich einen Kaffee und redet über Ihre Gefühle.
Trinken Sie den Kaffee koffeinfrei?
Nein, besser nicht, ich glaube, man sieht es mir an.
Jasmine Flury: Weltmeisterin. Wie klingt das am Tag danach?
Gleich wie am Samstag. Trainer Roland Platzer und alle sagten mir, ich sei Weltmeisterin, für mich ist das immer noch ungewohnt.
Konnte das Ganze doch schon irgendwie sacken?
Bis jetzt nicht. Ich habe zwar gefeiert, schlief aber nicht deshalb so wenig, ich weiss nicht, ob ich auf eine Stunde kam. Ich lag wach im Bett, ging noch einmal alles durch, was war, schaute Videos. Dominique Pittet, mein ehemaliger Trainer, schickte mir ein Video von der Zeremonie, ich hörte, wie er dabei weinte und schluchzte, so etwas wirkt schon, das ist emotional. Aber ich fühle mich noch immer wie in einem Film.
Wie schauten Sie früher auf Weltmeisterinnen?
Das war immer etwas Spezielles, ich sah es auch bei Corinne (Suter). In Are war ich hautnah dabei, als sie Silber und Bronze gewann, und sah, was das auslöst und verändert, wenn man am Tag X auf dem Podest steht, das ist unglaublich.
Vor 22 Jahren gewann Ihr Vorbild Sonja Nef Gold, macht es das noch spezieller für Sie?
Ich kann mich nicht daran erinnern, aber ja: Ich hatte ein Poster von ihr, das weiss ich noch.
Swiss-Ski-Präsident Urs Lehmann sagt, mit diesem Titel würde sich Ihr Leben verändern. Hoffen Sie auf Veränderungen?
Ich habe am Samstag noch lange mit Patrick Küng geredet (Abfahrtsweltmeister 2015), und er sagte, wir seien ja beide nicht diejenigen, die ein Rennen nach dem anderen gewinnen würden. Deshalb soll ich es wirklich geniessen und mir keinen Druck machen. Diesen Titel kann mir keiner mehr nehmen.
Dachten Sie am Samstag auch an die schwierigen Momente Ihrer Karriere?
Sicher habe ich zurückgedacht, aber an was alles, da kann ich mich nicht erinnern. Es prasselte dermassen viel auf mich ein. Wichtig war mir, dass die Leute dabei waren, die immer an meiner Seite sind, diese Emotionen sind präsent.
«Vor zwei Jahren reiste ich nach Hause, schaltete das Handy aus für drei Tage, sah nicht einmal, dass Corinne Gold gewonnen hatte.»
Als Ihrer Freundin Corinne Suter in Are der Durchbruch gelang, machten Sie Vitamin-Tabletten und Brötchen für sie bereit. Nun gewann sie Bronze und konnte kaum das Gleiche für Sie tun.
Nein, dafür war es enorm emotional, auch für sie. Wir konnten das super geniessen zusammen. In Are war es verrückt, als sie das erste Mal auf dem Podest stand und ich ihr sagte, sie müsse das geniessen.
Vor zwei Jahren wurde Suter Abfahrtsweltmeisterin, Sie wurden nicht aufgeboten. Wie war das für Sie?
Richtig schwierig. Ich reiste nach Hause, schaltete das Handy aus für drei Tage, sah nicht einmal, dass Corinne Gold gewonnen hatte, meine Schwester sagte es mir. Und ich schrieb Corinne von ihrem Handy aus, ich wollte wirklich meine Ruhe haben. Als ich meines wieder einschaltete, hatte Corinne schon dreimal versucht, mich anzurufen. Das zeigt, was für ein toller Mensch sie ist.
War jene WM auch der Grund für den Wechsel der Skimarke?
In jenem Sommer hatte ich das Gefühl, alles anders machen zu müssen, um aus dem Trott zu kommen, ich hatte auch Mühe, die Motivation zu finden. Der Materialwechsel gab mir Aufschwung, ich freute mich jedes Mal, auf die Ski zu stehen und zu spüren, wie ich mich weiterentwickle.
Ihr Servicemann Luigi Parravicini wurde bei der Feier im House of Switzerland auch extra erwähnt.
Er ist so ein herzlicher Mensch, ich freue mich auch für ihn. Er ist ein Arbeiter, wie ich ihn noch nie erlebte, ist sich für nichts zu schade .
Für ihn war diese Woche auch deshalb emotional, weil er 2005 an der Seite von Elena Fanchini war, als diese WM-Silber holte, am Mittwoch verstarb sie an Krebs.
Auch darum war es schwierig für ihn, es war 2005 zur ähnlichen Zeit, daher wertete er meinen Titel auch als Zeichen.
Sie sagten, dieser Titel könne Ihnen keiner mehr nehmen: Wollen Sie ihn festhalten, damit Sie sich in schwierigen Zeiten an ihm aufrichten können?
Auf jeden Fall. Auch Patrick sagte mir, ich solle daran denken, wenn es Momente gibt, in denen es nicht so viel Spass macht. Der Titel wird mich motivieren.
Was gab Ihnen Küng sonst noch mit auf den Weg?
Er sagte, er habe 2015 nach seiner Rückkehr aus Vail den Rest der Saison vergessen können. Auch ich soll es nun in erster Linie geniessen. Allerdings will ich schon noch Gas geben im Rest des Winters.
Sie stehen nicht gerne im Mittelpunkt. War es einfacher, weil Sie gemeinsam mit Ihrer Freundin Corinne Suter unterwegs waren und am Samstagabend das House of Switzerland besuchten?
Ja sehr. Zu Beginn war ich ziemlich überfordert. Ich habe gemerkt, dass ich müde bin. Und ich hatte Kopfweh. Ein Glas Weisswein hat dann aber geholfen, etwas zu entspannen. Dass Corinne dabei war, hat es aber bestimmt einfacher gemacht.
Haben Sie auf dem Tisch getanzt?
Nein, auf dem Stuhl. Annalisa Gerber (Leiterin Sponsoring bei Swiss-Ski) war auf dem Tisch (lacht). Patrick Küng und sie haben das gerockt. Das war gut so.
Sie erzählten, dass Sie nach Ihrem ersten Weltcupsieg 2017 in St. Moritz überfordert waren und das Gefühl hatten, dies bestätigen zu müssen. Welche Lehren haben Sie gezogen?
Damals hatte ich das Gefühl, ich müsse es nochmals beweisen. Weil es ein Rennen mit Unterbrüchen und Wind war. Ich glaubte, das zählt nicht so richtig, und habe mir danach extrem Druck gemacht. Daraus werde ich sicher die Lehren ziehen und es anders machen.
«Der Sieg in St. Moritz war für mich Druck, etwas Negatives.»
Nach der WM findet in Crans-Montana gleich ein Heimweltcup statt. Besteht da die Gefahr, dass Sie sich versteifen, weil alle sagen: Jetzt kommt die Weltmeisterin?
Ja sicher. Darauf darf und muss ich mich aber auch einstellen. Ich habe in St. Moritz nicht realisiert, dass ein Sieg auch etwas Schönes sein kann. Für mich war es Druck, etwas Negatives. Ich habe gar nicht wahrgenommen, wie schön das alles ist, das Drumherum, wie viele sich freuen. Ich versuche, das jetzt zu geniessen. Weil beweisen muss ich niemanden etwas.
Als Sie in der vergangenen Woche krank im Bett lagen, haben Sie sich wohl nicht gedacht: Jetzt will ich Weltmeisterin werden. War das vielleicht gar nicht so schlecht?
Im Rückblick kann man das so sagen. In diesem Moment dachte ich sicher nicht an den Titel. Es war ein Wettkampf gegen die Zeit. Man will an der WM einfach gesund sein und zeigen, was man kann. Und danach hat es damals nicht ausgesehen -- und auch noch nicht, als ich hierherkam. Darum waren die Erwartungen sicher tiefer.
Es heisst, dass Sie die Tendenz haben, bei der Analyse auf jene zwei Kurven zurückzuschauen, die nicht so gut waren und weniger auf jene 18, die gut gelungen sind.
Das ist definitiv so. Aber ich habe in diesem Jahr sehr daran gearbeitet, dass ich nicht an dem einen Schwung hängenbleibe, der nicht so gut war. Dass ich auf dem Positiven aufbaue.
Haben Sie sich Hilfe geholt?
Ich arbeite schon länger im mentalen Bereich. Jetzt habe ich noch etwas Neues versucht, um diese Selbstzweifel aufzuarbeiten. Im Kopf kann man sich schnell einmal sagen: Es ist gut, ich kann das. Aber es muss ja auch im ganzen Körper zu spüren sein. Und an dieser Verbindung arbeite ich.
Als Sie in den Weltcup kamen, wirkten Sie unbeschwert. Kamen die Selbstzweifel erst später?
Früher war ich definitiv viel unbeschwerter, in allem, was ich gemacht habe. Und so bin ich auch Ski gefahren. Ich habe nicht immer gross überlegt, sondern bin einfach darauflos. Aber das war nicht nur im Rennen so. Ich hatte auch sonst viel Spass am Ski fahren. Danach wurde alles professioneller, was ja auch gut ist. Vielleicht habe ich mich da aber etwas zu sehr versteift, wollte alles immer perfekt machen. Sei es im Konditionstraining, bei der Ernährung oder im mentalen Bereich. Überall strebe ich nach Perfektion, was nicht per se falsch ist, aber ein bisschen zu viel manchmal.
Haben Sie es bezüglich Ernährung zu weit getrieben?
In gewissen Phasen sicher. Ich wollte alles genau richtig machen, weil ich das Gefühl hatte, ich müsse das tun. Ich habe immer darauf geschaut, was ich esse, ob ich mir überhaupt einmal was gönnen kann. Ich nahm das eine Zeit lang sehr, sehr genau. Vielleicht brauchte es das in jenem Moment auch. Aber man wird älter und reifer und weiss dann auch, wie man gesund damit umgehen kann.
Sie setzten immer nur auf den Skisport. Andere Athletinnen sagen, dass es ihnen Ruhe und Lockerheit gibt, zu wissen, dass sie einen Plan B haben. Wie ist das bei Ihnen?
Irgendwann dachte ich wirklich, jetzt müsse ich noch etwas anderes machen. Früher war ich einfach unbeschwert. Ich hatte diesen jugendlichen Leichtsinn, diesen Weg zu wählen. Aber ich bin extrem stolz, dass ich ihn gegangen bin. Auch wenn es nicht immer einfach war.
«Ich wollte alles dafür tun, dass ich meinen Traum leben kann.»
Setzte es Sie nicht zusätzlich unter Druck, keine Alternative zu haben?
Zu Beginn schon. Aber als ich im Weltcup vorne dabei war, wusste ich, dass es das ist, was ich machen will. Und wenn ich es mache, dann will ich es richtig und mit 100 Prozent machen. Ich wollte alles dafür tun, dass ich meinen Traum leben kann.
Wo finden Sie Ablenkung?
Zu Hause, bei der Familie, bei Freunden, draussen in der Natur. Und jetzt bin ich ja dreifache Tante.
Sie erzählten am Samstag, dass Ihre Schwester in den Wehen liege. Ist Ihr Neffe noch am gleichen Tag auf die Welt gekommen?
Knapp nicht (lacht). Aber es ist alles gut gegangen. Die Familie gibt mir extrem viel.
Welche Gratulation bedeutete Ihnen am meisten?
Es gab so viele, von den Eltern, meiner Grossmutter, die noch angerufen hat. Einfach von denen, die mir nahe sind, mit denen ich so sein kann, wie ich bin. Das war am schönsten.
Die Perfektion ist Teil des Spitzensports. Als junge Athletin kann das eine Gefahr sein.
Auf jeden Fall. Es wird auch nicht einfacher mit all den Social-Media-Möglichkeiten, wo immer alles zu sehen ist. Man sieht, wie alles gut und perfekt ist, wie alle trainieren. Dann haben sie Ferien und sind wieder unterwegs, das sieht immer nach Glitzerwelt aus. Das macht es sicher nicht einfacher.
Haben Sie sich dadurch beeindrucken lassen?
Ja. Und jedes Mal, wenn ich das Gefühl hatte, es sei genug, dann folgte ich der Person nicht mehr – oder nur noch denjenigen, die mich inspirierten.
Wie ist Ihre Social-Media-Strategie?
Es gibt Phasen, in denen ich es supercool finde. Dann gibt es Phase, in denen ich denke: lieber nicht. Ich probiere, eine gute Balance zu finden zwischen dem – gerade auch mit dem, was ich für die Sponsoren tun muss. Ich schaue aber auch, dass ich nicht nur das zeige. Trotzdem will ich mir mein Umfeld für mich behalten.
Es wird ein Marathon beginnen für Sie. Sind Sie gut im Nein sagen?
Das kann ich wirklich nicht gut. Ich weiss, dass ich da Unterstützung habe und bin extrem froh. Es hat gestern schon angefangen, als kleine Kinder kamen und es hiess: «Nein jetzt müssen wir gehen.» Ich musste an ihnen vorbeilaufen, das ist nicht einfach. Die Weltcuprennen in Crans-Montana werden bestimmt auch eine gute Probe, um das zu üben.
«Es gibt gewisse Leute, die sich nicht mehr spüren, das durfte ich am Samstag schon merken.»
Skifahrerinnen bewegen sich oft unter Leuten.
Das ist ja auch etwas Schönes. Aber es gibt gewisse Leute, die sich nicht mehr spüren, das durfte ich am Samstag schon merken. Wenn jemand normal auf mich zukommt, werde ich auch in Zukunft nicht Nein sagen. Aber sonst muss ich mich vielleicht auch etwas abgrenzen.
War es gestern auch unangenehm?
Unangenehm, ich weiss nicht … Bei gewissen Menschen fehlt zum Teil einfach das Gespür, wie man solche Dinge angehen oder einfach normal fragen kann.
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