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Meinung

Kolumne von Michael Hermann
Die Schweiz ist politisch ein Flickwerk – zum Glück

Die Gräben gingen an diesem Abstimmungswochenende kreuz und quer durch die Schweiz. Stimmzettel in einem Stimmlokal.
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Sie sind ziemlich bemerkenswert, und doch sind sie in der Berichterstattung zum Abstimmungswochenende beinahe untergegangen: die verqueren Muster und Gräben, die sich auf den neusten Abstimmungslandkarten zeigen.

So fand sich der grösste Ja-Anteil aller Kantone für das Verhüllungsverbot ausgerechnet im linksgerichteten Kanton Jura. Und die Romandie, die sonst meist eine Allianz mit den Deutschschweizer Städten eingeht, lag diesmal insgesamt auf einer Linie mit der konservativen Zentralschweiz. Gegen die Minarettinitiative von 2009 stimmten damals neben Basel-Stadt nur welsche Kantone.

Die Westschweizer Zustimmung zur SVP-nahen Verhüllungsinitiative ist bemerkenswert, denn beim Migrationsthema besteht über alle Abstimmungen hinweg der grösste Röstigraben überhaupt. Nicht von ungefähr gibt es in den meisten welschen Gemeinden ein Ausländerstimmrecht.

Das von Frankreich geprägte Selbstverständnis der Romandie hat für einmal den migrationspolitischen Röstigraben überdeckt.

In der Deutschschweiz dagegen nur vereinzelt, und zwar in den traditionell eher fremdenfreundlichen Kantonen Graubünden und Appenzell Ausserrhoden. Und genau diese beiden waren am Sonntag die einzigen ländlichen Kantone überhaupt, die sich gegen das Verhüllungsverbot stellten. Hier ein Nein, dort ein Ja – es sind solche Drehungen, die zeigen: In der Schweiz gibt es nicht nur eine, sondern mehrere politische Erzählungen.

Das von Frankreich geprägte laizistische Selbstverständnis, bei dem religiöse Symbolik im öffentlichen Raum besonders kritisch gesehen wird, hat für einmal den migrationspolitischen Röstigraben überdeckt.

Einen markanten Röstigraben gab es dagegen beim Handelsabkommen mit Indonesien. Doch auch hier mit einem speziellen Dreh. Lange war Weltoffenheit prägender Teil des Selbstverständnisses der frankophonen Schweiz.

Bei der EWR-Abstimmung nahm die Romandie die Zentralschweiz als «Suisse primitive» war.

Die Abstimmung zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) von 1992 entfachte einen Konflikt mit der als konservativ und hinterwäldlerisch wahrgenommenen «Suisse primitive», wie die Zentralschweiz damals leicht abschätzig genannt wurde. Auch bei einem Handelsabkommen geht es um aussenpolitische Öffnung, und doch wurde es nun ausgerechnet in der Romandie abgelehnt, und zwar deutlich und mit ökologischen Argumenten.

Dabei waren ökologische Anliegen bis noch vor wenigen Jahren in der Deutschschweiz stärker verankert als in der Romandie, wo «bio» noch ein Fremdwort war, als es in der Deutschschweiz schon ein Trend war. Solche Dynamiken zeigen: In der Schweiz sind politische Gräben nicht festgefroren. Sie sind schillernd und wandelbar.

Die Schweiz ist ein politgeografisches Flickwerk, und das ist nicht despektierlich gemeint. Im Gegenteil: Gefährlich wird es dann, wenn in einem Land nur eine politische Erzählung und nur zwei gegnerische politische Identitäten bestimmend sind. So wie heute etwa in den USA – oder in einer etwas anderen Weise in Belgien.

Belgien benötigte zuletzt tatsächlich 493 Tage, um nach den nationalen Wahlen eine neue Regierung zu bilden. Belgien ist kein Flickwerk, sondern ein zweigeteiltes Land im Spannungsfeld zwischen niederländischem Flandern und frankophonem Wallonien.

Zu hoffen bleibt, dass diese Möglichkeiten auch für Mut, Gestaltungswillen und mehr persönliche Freiräume eingesetzt werden.

Jede politische Frage wird dort zur Frage der sprachregionalen Identität. So wie im anderen Beispiel – den USA – jede politische Frage zu einem Glaubenskampf zwischen Demokraten und Republikanern verkommt. Sind solche starken Pole einmal gesetzt, ist ihnen fast nicht mehr zu entkommen.

Jedes neue Thema ordnet sich sofort ins alte Schema ein: Sind die anderen dafür, sind wir dagegen – und umgekehrt. Die verqueren, wandelbaren politischen Geografien der Schweiz zeigen, dass dieses Land dem immer gleichen Wir-gegen-die-anderen entkommen ist. Auf dem Spielfeld politischer Allianzen öffnet dies neue und letztlich auch unkonventionelle Möglichkeiten.

Zu hoffen bleibt, dass diese Möglichkeiten in Zukunft nicht hauptsächlich nur für Einschränkungen, Verbote und gelebte Empfindlichkeiten aktiviert werden, sondern auch für Mut, Gestaltungswillen und mehr persönliche Freiräume.

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