Streik in TunesienDie Menschen haben den Glauben an die Politik verloren
Hunderttausende haben wegen der schweren Wirtschaftskrise die Arbeit niedergelegt und das Land lahmgelegt. Und der Präsident verlangt immer mehr Macht für sich.
Nach dem Generalstreik verschärft sich die politische Lage in Tunesien. Dem Appell von Gewerkschaften und politischen Parteien waren Ende vergangener Woche landesweit über 700’000 Angestellte des öffentlichen Dienstes gefolgt. Neben dem Flughafen Karthago, Bahnen, Bussen und Behörden blieben auch die Türen vieler Supermärkte geschlossen. Der Wirtschaftsexperte Moez Hedidane schätzte in einem Interview die wirtschaftlichen Einbussen auf 95 Millionen Euro – mitten in der grössten Finanzkrise seit der Unabhängigkeit des Landes.
Der seit der Corona-Pandemie drohende Staatsbankrott soll nun durch einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) verhindert werden. Doch gegen die Reformvorschläge der Experten aus Washington leisten die Gewerkschaften verbissen Widerstand. Der stellvertretende Generalsekretär der grössten Gewerkschaft UGGT, Samir Cheffi, kritisiert den Druck seitens des IWF und verschiedener EU-Länder. «Es ist das erste Mal, dass der IWF eine Gewerkschaft ins Visier nimmt. Wir wollen verhindern, dass Tunesien von einem Währungsfonds regiert wird.»
Präsident verachtet politische Parteien
Zusammen mit mehreren Hundert Demonstranten war Cheffi in der Hafenstadt Sfax auch gegen die Alleinherrschaft von Präsident Kaïs Saïed auf die Strasse gegangen. Saïed hat sich bisher nicht zu der geforderten Verschlankung des öffentlichen Dienstes und der Reduzierung der Löhne geäussert, geht aber mit Dekreten auch gegen staatliche Institutionen vor.
Sollte die vom Präsidenten im Januar ernannte Regierung von Premierministerin Najla Bouden die IWF-Reform durchwinken, drohen weitere Strassenproteste. Schon im letzten Sommer nutzte Saïed den Unmut in der Bevölkerung gegen die Untätigkeit des Parlaments und der damaligen Regierung, um seinen schon lange angekündigten Umbau des Staates mithilfe der Polizei und Dekreten umzusetzen. Aus seiner Abscheu gegen die seit der Revolution von 2011 entstandenen politischen Parteien hatte der 64-Jährige nie einen Hehl gemacht. In den Jahren vor seiner überraschenden Wahl 2019 hatte der Uniprofessor für die Schaffung einer präsidialen Basisdemokratie geworben.
Im letzten Sommer liess Saïed vorübergehend das Parlament schliessen und Abgeordneten ihre Immunität entziehen. Danach mussten mehrere Provinzgouverneure und Behördenchefs ihren Hut nehmen. Aus dem Innenministerium entfernte er die Anhänger der moderaten Islamistenpartei Ennahda. Anfang Juni entliess Saïed erstmals auch 57 Richter und begründete dies mit Korruption, «Geheimabsprachen» und der «Störung der Arbeit der Justiz».
Weil politische Morde wie an den linksgerichteten Politikern Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi noch immer nicht aufgeklärt sind und der Staatsapparat als extrem korrupt gilt, unterstützen noch immer viele Tunesier die umstrittenen Massnahmen des Politik-Quereinsteigers.
Viele Tunesier haben den Glauben an die politische Elite mit dem wirtschaftlichen Absturz während der Corona-Krise verloren.
Die politische Elite sieht in Saïeds Machtzuwachs dagegen die Rückkehr der Diktatur. Die populäre Oppositionsführerin Abir Moussi bezeichnet die von Saïed persönlich ernannte Regierung von Najla Bouden als «illegitim und korrupt». Der Sprecher der linkspopulären Volksfront-Partei verglich die Vorgehensweise sogar mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus.
Doch die Gegner Saïeds können bisher nur wenige Menschen motivieren, gegen den Präsidenten oder den IWF zu demonstrieren. Viele Tunesier haben den Glauben an die politische Elite spätestens mit dem wirtschaftlichen Absturz während der Corona-Krise verloren.
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