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Russlands Krieg gegen die Ukraine
Die letzte Bastion in Mariupol

Unter Dauerbeschuss der Russen: Das Gelände des Asowstal-Stahlwerks in Mariupol.
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An Mariupol zeigt sich gerade wie unter einem Brennglas das ganze Problem des Krieges in der Ukraine: Wirkliche Unterstützung für die eingekesselten ukrainischen Soldaten und Zivilisten ist kaum möglich, ohne selbst in den Konflikt hineingezogen zu werden.

Ein Kommandant der seit Wochen in der belagerten Stadt eingeschlossenen ukrainischen Marineinfanteristen hat ein einminütiges Video an die BBC und andere Medien geschickt, in dem er die Lage in Mariupol schildert: Den Verteidigern blieben nur noch Tage, wenn nicht nur Stunden, sie seien zehn zu eins in der Unterzahl, und Russland habe in jeder Hinsicht die militärische Oberhand.

Er verlangt von der internationalen Gemeinschaft eine Rettung der verbleibenden Soldaten, darunter 500 Verwundete, sowie Hunderter Zivilisten, die sich bei den ukrainischen Streitkräften vor der russischen Armee in Sicherheit gebracht hätten. Sie alle sollen auf das Territorium eines dritten Staates gebracht werden.

Diese letzten Einheiten der ukrainischen Armee und die Zivilisten haben sich in dem Asowstal-Stahlwerk verschanzt, einem weitläufigen Komplex mit vielen unterirdischen Anlagen, auf einer Seite vom Meer und auf zwei durch den Fluss Kalmius geschützt.

Eigentlich ist das eine gute Verteidigungsposition. Die russischen Streitkräfte konnten sie bisher nicht einnehmen, und wahrscheinlich wäre eine Erstürmung nur unter grossen Verlusten möglich. Das Stahlwerk steht deshalb seit Tagen unter schwerem russischem Bombardement. Vergangene Woche gab es auch Drohungen und unbestätigte Berichte über den Einsatz von Chemiewaffen.

Kaum noch Nahrung und Munition

Trotz ihrer strategisch guten Position sind die Verteidiger aber in einer aussichtslosen Lage: Sie sind seit Wochen von jedem Nachschub abgeschnitten, Nahrung und Munition sollen zur Neige gehen. Obwohl sich auch einige ukrainische Soldaten ergeben haben sollen, ist nach den Bildern und Berichten von Massakern in den von Russland besetzten Gebieten eine Kapitulation in russische Kriegsgefangenschaft für die in dem Stahlwerk ausharrenden Soldaten und Zivilisten vermutlich keine Option.

Das eindrückliche Video des Kommandanten und seine Forderungen sind gut nachvollziehbar – wahrscheinlich sind sie für die Belagerten wirklich die einzige Möglichkeit, die Stadt lebend zu verlassen. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Böse Erinnerungen an die russische Falle».)

Logistisch wären zu einer solchen Evakuierung nach den Erfahrungen des Abzugs der internationalen Schutztruppen aus Kabul im August vorigen Jahres wohl nur die Vereinigten Staaten in der Lage. In Kabul gab es aber immerhin einen Flughafen, in Mariupol müssten Boote und Helikopter zum Einsatz kommen.

Der amerikanische Flugzeugträgerverband um die USS Truman befindet sich derzeit zwar in der Adria, es ist aber kaum vorstellbar, dass die USA sich, trotz aller Unterstützung für die Ukraine, zu einer solchen Evakuierung entschliessen. Denn diese müsste auch militärisch abgesichert werden, wie es ebenfalls in Afghanistan geschehen ist.

Ein solcher Einsatz wäre, selbst wenn mit Russland ein Waffenstillstand zur Evakuierung geschlossen werden könnte, extrem gefährlich. In der Vergangenheit wurden Waffenruhen immer wieder gebrochen. Tote oder verletzte Nato-Soldaten in der Ukraine wären eine unkalkulierbare Eskalation des Konflikts und allein ihre Anwesenheit eine Steilvorlage für russische Propaganda. Amerikanische Soldaten in der Ukraine hatten die USA und die Nato deshalb aus guten Gründen längst ausgeschlossen.

Alles andere als die komplette Einnahme der Stadt Mariupol ist für die russische Führung keine Option mehr.

Die einzige andere Nation in der Region, die eine solche Rettungsaktion logistisch durchführen könnte, wäre wahrscheinlich die Türkei, die zu Russland wie zur Ukraine gute diplomatische Beziehungen unterhält. Aber auch die Türkei ist Mitglied der Nato und steht deshalb vor denselben Problemen einer möglichen Eskalation durch die Rettungsmission wie die USA.

Abgesehen davon, dass Russland die Landung ausländischer Truppen in Mariupol wohl kaum zulassen würde, geschweige denn einen amerikanischen Flugzeugträgerverband oder türkische Kriegsschiffe im Asowschen Meer.

Obwohl eine Evakuierung des Stahlwerks der russischen Armee die endgültige Kontrolle über die Stadt geben würde, wäre das nicht der Sieg, den man sich in Moskau vorstellt. Ausgehend vom Vorgehen der russischen Streitkräfte in den vergangenen Wochen ist es unwahrscheinlich, dass sie sich für ein solches Ende der Kämpfe um die Stadt entscheiden werden.

100’000 Menschen sollen sich noch auf dem Stadtgebiet von Mariupol aufhalten: Eine Frau und ein Mann mit ihren Habseligkeiten gehen durch zerstörtes Gebiet.

Alles andere als die komplette Einnahme der Stadt ist für die russische Führung keine Option mehr. Denn die Eroberung Mariupols ist für Russland von grosser strategischer und symbolischer Bedeutung: Es wäre einer der wenigen Erfolge, die Moskau vor allem im eigenen Land präsentieren könnte; es würde eine Landbrücke zur seit 2014 besetzten Krim möglich machen und die Ukraine vom Zugang zum Asowschen Meer abschneiden.

Vermutlich wird die russische Armee weiter versuchen, das Stahlwerk ohne Rücksicht auf eigene Verluste früher oder später einzunehmen. Aktuell wird aus der Stadt gemeldet, Russland versuche weiter, von Norden anzugreifen, und ziehe Panzer sowie schwere Waffen in der Gegend zusammen. Vor zwei Tagen habe es einen schweren Luftangriff auf das Gelände gegeben. Nach wie vor würde in Teilen des Stadtgebiets auch ausserhalb des Werkes gekämpft. (Lesen Sie auch den Artikel «Auch wenn die Stadt fällt: Mariupol ist für Moskau ein Problem».)

Heftige Kämpfe im Osten der Ukraine

Zumindest für die Zivilbevölkerung gab es am Mittwoch aber einen kleinen Hoffnungsschimmer: Für 14 Uhr Ortszeit wurde ein Fluchtkorridor für Zivilisten aus der Stadt vereinbart. 90 Busse sollten bis zu 6000 Menschen aus dem umkämpften Gebiet bringen. Es war zunächst unklar, ob die Rettungsfahrten wie geplant durchgeführt werden konnten. Noch immer halten sich nach Schätzungen etwa 100’000 Menschen in dem Stadtgebiet auf.

Auch aus anderen Teilen des Landes wurden am Mittwoch Gefechte und Bombardements gemeldet. Der britische Militärgeheimdienst teilte mit, Russland ziehe im Osten der Ukraine weiter Truppen zusammen und versuche, bisher wohl mit wenig Erfolg, die Stellungen der ukrainischen Armee zu durchbrechen. In weiten Teilen des Landes gebe es Angriffe vor allem mit Artillerie, vermutlich, um die Verstärkung der ukrainischen Truppen im Osten zu verlangsamen. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Die Ukraine hat die Chance, einen Abnützungssieg zu erkämpfen».)