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Hilfswerke stark gefordert
Die Krise verschärft die Angst vor dem sozialen Abstieg

Die Corona-Krise verschärft die wirtschaftlichen Probleme vor allem von Frauen mit Teilzeitjobs wie Anna Schulz (Name geändert) aus dem Aargau.
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«Ich habe mein Leben lang gearbeitet», erzählt die 51-jährige Anna Schulz (Name geändert). Leicht hat es die alleinerziehende Mutter dreier Kinder nie gehabt, «aber wenn ich normal schaffen kann, komme ich durch». Sie arbeitet in einem 80-Prozent-Pensum als Serviceangestellte in einem Hotel-Restaurant im Kanton Aargau. Wegen der Einschränkungen bei den Öffnungszeiten hat sie im Dezember nur eine Woche arbeiten können. Und seit dem vergangenen Montag ist das Lokal ganz zu.

Anna Schulz bekommt zwar Kurzarbeitsentschädigung. Doch das reicht nicht. «Mit dem Lohn kann ich die Rechnungen bezahlen. Das Problem ist, dass die Trinkgelder fehlen.» Mit diesem Extrageld von rund 200 Franken im Monat hat sie ihre Ausgaben für Essen und Kleidung bestritten. Jetzt geht sie zweimal die Woche putzen.

Ersparnisse sind aufgezehrt

Vor einigen Tagen erhielt sie eine hohe Leistungsabrechnung ihrer Krankenkasse, das Geld für den Selbstbehalt für Medikamente von rund 600 Franken hatte sie nicht. Denn ihre Ersparnisse von 2000 Franken hatte sie bereits im ersten Lockdown aufgebraucht. In ihrer Not wandte sich Anna Schulz an die Caritas, die für sie die Rechnung übernahm.

Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Dennoch gibt es laut Caritas in der Schweiz allein rund eine halbe Millionen Menschen, die sich nur knapp über der Armutsgrenze halten können und deren Lage die Corona-Krise nun verschärft. Es sind Menschen wie Anna Schulz. «In der gesamten Schweiz hat die Caritas rund fünfmal mehr Direktzahlungen geleistet, als dies in einem normalen Jahr der Fall war», erklärt Lisa Fry, Sprecherin von Caritas Schweiz. Rund 14’000 Menschen hat die Caritas bereits eine einmalige Direkthilfe ausbezahlt, um einen kurzfristigen Engpass zu überbrücken.

Frauen sind öfter von Prekarität betroffen als Männer.

Rund 195’000 Menschen in der Schweiz erledigen Arbeit auf Abruf. Im Zuge der Corona-Krise hatten viele von ihnen weniger oder gar keine Arbeit. 372’000 Menschen haben zudem mehrere Jobs, um über die Runden zu kommen. Insgesamt sind Frauen öfter von Prekarität betroffen als Männer, weil sie häufiger auch in Niedriglohnjobs und oft zusätzlich in Teilzeit arbeiten.

Trotz einem gut ausgebauten Sozialstaat mit Kurzarbeitsentschädigung, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe führt die Krise dazu, dass die Beratungsbüros der Sozialwerke wie Caritas oder Heilsarmee starken Zulauf haben. «Es kommen derzeit Menschen, die vorher noch nie da waren», heisst es von der Caritas.

Ähnliches ist von der Heilsarmee zu hören, die ebenfalls einmalige Überbrückungshilfen in Notsituationen auszahlt. «Die Nachfrage nach Überbrückungshilfe hat sich in unseren zehn Büros in der Schweiz teilweise verdoppelt», erklärt Christine Volet, Sprecherin der Heilsarmee Schweiz. «Die Krise führt dazu, dass Menschen ihre Krankenkassenprämien nicht mehr zahlen können oder Probleme haben, für die Miete aufzukommen.»

Auch am untersten Ende der Gesellschaft nimmt die Not zu. So berichtet die Stiftung Schweizer Tafel, die einwandfreie überschüssige Lebensmittel an soziale Institutionen wie Obdachlosenheime, Gassenküchen, Notunterkünfte verteilt, von steigendem Bedarf. «Wir gehen davon aus, dass sich die Nachfrage im weiteren Verlauf der zweiten Welle und darüber hinaus nochmals steigern wird, da immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze fallen», erklärt Sprecherin Andrea Schlenker.

Die Not ist mit blossem Auge erkennbar: So bilden sich oft lange Schlangen vor der Ausgabestelle des Vereins Incontro in einer Seitenstrasse der Zürcher Europaallee – in einem der teuersten Quartiere der Stadt. Über 100 Mahlzeiten am Tag vergeben die Incontro-Helfer um Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf allein an dieser Ausgabestelle. Danach geht es weiter zur Langstrasse, wo bis zu 300 Mahlzeiten an Menschen in Not verteilt werden.

Leute stehen Schlange vor der Essensausgabe im Quartier der Europaallee in Zürich, die vom Verein Incontro betrieben wird.

In den Zahlen für Sozialhilfebezüge hat die Corona-Krise dagegen bisher kaum Spuren hinterlassen, heisst es bei der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Zu Beginn der Corona-Krise war ein «leichter Anstieg der Fallzahlen bemerkbar». Stand Ende November seien die Zahlen «praktisch wieder auf dem Niveau» des Jahres 2019.

Dafür gibt es mehrere Erklärungen: So kommt Sozialhilfe als letztes Instrument zum Zug, nachdem andere staatliche Hilfen wie Arbeitslosenentschädigung ausgelaufen sind und Betroffene ihr Vermögen aufgebraucht haben. Die Krise wird sich daher erst mit zeitlicher Verzögerung in den Fallzahlen niederschlagen. Die Skos prognostiziert daher bis 2022 einen Zuwachs um 28 Prozent.

Wer arm ist, versteckt sich in der reichen Schweiz.

Viele Betroffene, die eigentlich Anspruch auf Sozialhilfe hätten, stellen aber keinen Antrag, weil sie sich schämen. Wer arm ist, versteckt sich in der reichen Schweiz. Zum anderen scheuen vor allem Migranten, die zum Beispiel nur eine Aufenthaltsbewilligung B haben, den Gang zum Sozialamt. Sie fürchten, dass ihnen die Ausweisung droht, sollten sie staatliche Hilfen in Anspruch nehmen. Die Sorge ist indes unberechtigt: So hat das Staatssekretariat für Migration schon im Frühjahr erklärt, dass ein «Covid-bedingter Sozialhilfebezug nicht zu ausländerrechtlichen Konsequenzen führen soll». Doch viele Migranten wissen dies vielleicht nicht oder trauen den Behörden offenbar nicht, wie es von Vertretern der Hilfswerke heisst.

Daher wenden sich auch Migranten in ihrer Not an Hilfswerke. Doch auch für karitative Einrichtungen wie die Caritas und die Heilsarmee hat die Krise Folgen. Neben Spenden und Leistungsaufträgen für Bund und Kantone beziehen sie Gelder aus ihren Brockenstuben – die im ersten Lockdown aber geschlossen waren. Die Heilsarmee Schweiz beziffert den so bis Mai entgangenen Umsatz auf 2,5 Millionen Franken.

Spendenbereitschaft ist hoch

Dafür scheint die Solidarität der Schweizerinnen und Schweizer mit den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft intakt. Die befragten Hilfsorganisationen berichten übereinstimmend von höheren Spendeneinnahmen als 2019.

Auch die Politik hat reagiert: So hat der Nationalrat im Dezember beschlossen, die Kurzarbeitsentschädigung für tiefe Einkommen auf 100 Prozent anzuheben. Die Caritas fordert aber, dass mehr gegen Armut getan wird: So müssten zum Beispiel die Prämienverbilligungen erhöht werden. Die Kosten für die Krankenversicherung seien für viele ein Riesenproblem.

Davon könnte auch Anna Schulz profitieren. Doch noch wichtiger ist ihr, möglichst bald wieder mit ihrer eigenen Arbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.